http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/mgl-2000-02/0101
Eben dazu - sich dieser fatalen Verbuhltheit mit der eigenen Zeit bewusst zu
werden - taugt Picards Werk als eine der großen radikalen Infragestellungen und
Relativierungen unserer Zeit. Dennoch hat es von den Erschütterungen und der
Krise unserer postindustriellen „Risikogesellschaft" bislang erstaunlicherweise
nicht profitiert; seine Rezeption ist trotz Übersetzungen in ein rundes Dutzend
europäischer und außereuropäischer Sprachen weniger durch Breite als durch beispielhafte
Intensität gekennzeichnet. Es waren viele Einzelne in vielen Ländern,
denen - mit einem Wort von Albrecht Goes -..zu guter Stunde ein Buch Picards in
die Hände kam. Und wer nur erst einmal dem Mann auf die Spur gekommen war.
der blieb auf seiner Fährte". Die es taten - darunter Wilhelm Hausenstein und
Benno Reifenbers. Frank Thiess und Luise Rinser. Reeina Ullmann und Reinhold
Schneider. Rudolf Kassner und Gabriel Marcel. Eduard Spranger und Karl Pfleger
sowie Ernst Wiechert. der Picard seine Lebenserinnerungen ..Jahre und Zeiten"
widmete und ihn unter die fünf weisesten Menschen seiner Zeit rechnete - lernten
einen Mann mit einer ..seelischen Energie seltenster Art" (Benno Reifenberg)
kennen, eine leidenschaftlich-impulsive Natur, deren spontane Affekte sich in
schroffer Ablehnung und ..alttestamentarischer Zorneskraft" (Walter Migge) ebenso
entladen konnten wie in herzlichster Zuneigung und in teilnehmender Zuwendung
gegenüber vielen Ratsuchenden. Deren waren es zuweilen viele, und die
davon Zeugnis gaben, hoben an ihm sein „weltlich-seelsorgerisches" Geschick
hervor, aber auch die Zuversicht, die ihnen aus der bloßen Tatsache zuwuchs, „ihn
hier in Neggio" (Benno Reifenberg) zu wissen. Das Rigorose und Apodiktische
seines Wesens war Voraussetzung seiner „großartigen Einseitigkeif (Albrecht
Goes), die sich in seinen Visionen bis zur Gewalt eines Gerichtstages steigern
konnte. Bei allem behielt Picard, der 1965 starb, ein Leben lang die Fähigkeit
kindlichen Staunens und eine Unmittelbarkeit, die ihn gesellschaftlichen Konven-
tionen und Erwartungen gegenüber immunisierte.
Man hat eingewendet. Picard wolle mit seinen Büchern hinter die Moderne
zurück: aber dieser Vorwurf ist gering zu veranschlagen gegenüber der Gefahr
eines Pluralismus, der den Widerspruch zu unserer Welt aus dem Geist des Ganzen
nicht mehr lebendig hält und nicht immer wieder neu vertieft. Picards Werk
aber bilanziert die Verluste, mit denen unsere Gegenwart erkauft ist. eindrucksvoll
wie weniges sonst. Sich auf es einzulassen bedeutet, ein neues Welt-Bewusstsein
zuzulassen, ein paar Schritte herauszutreten aus den unbefragten Selbstverständlichkeiten
heutiger Existenz. Je mehr die Zeit über Picard hinweg schreiten zu
können glaubt, desto mehr erhöht sie unwillentlich Richtigkeit und Brisanz seines
Denkens - seine ..Unzeitgemäßheit" ist in Wirklichkeit seine insgeheime Aktualität
.
99
http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/mgl-2000-02/0101