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bilden unsere Heimat - so wie man sich in einem bestimmten Musikstück, in einer
bestimmten Melodie plötzlich zu Hause fühlt, zum Beispiel wenn der Männerchor
„Das ist der Tag des Herrn" anstimmt - meine Eltern waren da oft zu Tränen
gerührt.
Aber sibt es das noch? Gehören nicht zur multikulturellen Gesellschaft viele
Sprachen. Landschaften und Bauwerke? Hören wir nicht eher ein fast babylonisches
Sprachengewirr um uns herum? „ Wir Engländer haben die Sprache erfunden
, und die Amerikaner haben sie ruiniert", hat Chris HOWLAND, der bekannte
deutsch-britische Entertainer, gesagt.41 Und Gregor von REZZORI meinte
: „Ich schreibe ein Deutsch, das heute nicht mehr gesprochen wird". 51 Und
das ist nicht neu: Das „Heilige Römische Reich Deutscher Nation*' hat viele
Kulturen in sich aufgenommen, viel mehr als heute unter uns bekannt sind:
spanische, französische, niederländische, böhmische, ungarische, polnische.
Alle wollten sie heiraten, die Vertreter so vieler Herkünfte. und alle sind sie
unsere Vorfahren geworden. (Wenn ich wüßte, von welchen Zigeunern ich abstamme
, könnte ich endlich erklären, warum wir so gerne in der Weltgeschichte
herumfahren). Und viele Kriege gingen übers Land, viele Wanderungen und
Fluchtbewegungen gingen vor ihnen her oder folgten ihnen - und so wurden
auch viele Sprachen gesprochen. Karl V., der Kaiser in Luthers Zeit, das dunkle
Genie auf dem Deutschen Kaiserthron, redete Spanisch mit Gott. Französisch
mit seiner Frau, Italienisch mit seinen Bankiers und Deutsch mit seinem Pferd,
wird gesagt.b' Und manche, die ihre eigene Heimatsprache vergeblich suchen,
ziehen sich in die Musik zurück: .Mein Mann hört nur noch Platten ", sagte die
Frau des gealterten badischen Philosophen. Elfriede HEIDEGGER, auf die Frage
nach seinem Befinden.7)
Man „hat" die »Muttersprache« also nicht, sondern es gilt Goethes Wort: „ Was
du ererbt von deinen Vätern (und Müttern) hast - erwirb es, um es zu besitzen".
Der Erwerb ist Arbeit, und Johann Peter HEBEL ist zeitlebens mit dieser Arbeit,
seine Sprache (immer neu) zu erwerben, zu sprechen und zu schreiben, beschäftigt
gewesen - bisweilen hat er uns sogar sich über die Schulter schauen lassen. An
Sophie HAUFE schrieb er: „Nach keiner Richtung hin hat mein Ohr mehr und
sorglicher gelauscht, als über die Rheinbrücke [nach Straßburg]...Denn immer
w enn ich schrieb habe ich mir meinen alten Schulmeister Andreas Grether in
Hausen und mich und meine Mitschüler unter dem Schatten seines Stabes (der
liebe Gott und der Herr Lehrer waren fast identisch, Hebel begegnet hier mit
feiner Ironie dieser Identifizierung: „Stecken und Stab" sind Attribute Gottes, vgl.
z.B. l.Mose 49.10 u. Psalm 23,4), oder ich habe mir eine Repräsentantin aller
Mütter unter ihren Kindern, und immer die nemliche (nämlich Sophie Haufe)
gedacht, und uns um unser Urtheil, mich als Schulbüblein mitgerechnet, um unser
Unheil gefragt. An die eigene Mutter durfte ich nie denken. Hübner (die damals
in Familien und Schulen meist benutzte und verbreitete Biblische Geschichte) war
zu sehr ihr unerreichbares Höchstes...".81 Aber das galt nur für die neue „Biblische
Geschichte" und das Schriftdeutsche.
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