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Ich hätte auch sagen können: „Muttersprache - Luthersprache". Denn Hebel
liebte die Sprache Gottes als die Sprache der Bibel und diese wiederum in der
Übersetzung Luthers. Muttersprache und Bibelsprache: Beide gehörten zur „Heimat
" - in der er sich zu Hause fühlte, wo immer er auch war. Und so beschrieb er
immer wieder auch Menschen, in Russland oder Holland, in Amerika oder Indien,
die ihr Zuhause bei sich hatten: die Bibel im Kopf oder in der Hand, die Lebensregeln
der Mütter und Väter im Hintergrund. So konnten sie nirgends ganz fremd
werden: Franziska in Holland und England nicht, der Schneider von Pensa in
Russland nicht. Und Hebel in Karlsruhe nicht. Und nicht als Gast bei Großherzogs
, der ein so ganz anderes Haus bewohnte als das Hausener Häuschen. Marcel
REICH-RANICKI hat etwas Ähnliches von den Juden erzählt, die überall in der
Welt ihre „portative Heimat" bei sich hatten: die Bibel als ..tragbare" Sprach-
Heimat.
Aber ich meine mit Sprache Gottes natürlich noch etwas ganz Anderes. Wir
können das nachlesen in einer der allerschönsten Geschichten der Welt, die leider
nicht so bekannt geworden ist: Einer Edelfrau schlaflose Nacht. 101 Die Ge-
schichte entstammt dem Neuen Kalender des Rheinischen Hausfreunds ..auf das
Jahr 1819". Hebel sagt in seiner gewohnten Vorrede: „Es sind seit mehreren
Jahren so viele lebendige Kriege und andere sonderbare Ereignisse in die Welt
gekommen, daß zu besorgen war, der rheinländische Leser habe genug daran [so
daß er keine vaterländischen Geschichten lesen will]... Der Hausfreund wünscht
dem geneigten Leser [vielmehr] eine lange Reihe friedlicher und fruchtbarer Jahre
, von welchen das Jahr 1819 nicht das schlechteste seyn soll, und er will etwas
darauf wagen...".Und dann folgt diese Geschichte, die uns zeigen will, wie es
friedlicher unter uns zugehen kann:
„/......] Eine Dienstmagd, jung und brav, auch hübsch, und ein Knecht gleicher
Qualität, dienten miteinander auf einem Edelhof, und hätten nicht so gerne Kaffee
getrunken, oder alle Tage Braten gegessen, als vielmehr einander geheurathet.
Allein sie waren Leibeigene, in soweit, daß sie verpflichtet waren, eine gewisse
Zeit Hofdienste zu thun, und die Edelfrau auf dem Hofe wollte sie nicht früher aus
dem Dienst entlassen, weil sie so brav waren in ihrer Aufführung, und so fleißig
und treu in ihren Geschäften. Deswegen saßen sie oft beysammen und weinten,
oder sie weinte, und er nagte an einem Holzsplitter. Ein andermal, wie die
menschliche Laune wechselt, sprachen sie sich Muth ein, daß es ja nur noch zwey
Jährlein zu thun sex, und freuten sich schon zum Voraus ihres zukünftigen Glücks,
wenn ,du mein Weib bist' - sagte er - ,und ich dein Mann', und einmal vergaßen
sie sogar die Zukunft, und meynten es sey jetzt....".
Wie wunderbar zart ist dieser letzte Satz! Man muss sich einmal vorstellen, wie
das, was der Dichter hier anspricht, in einem zeitgenössischen, heutigen Buch oder
Film zu lesen oder anzusehen sein würde. Ein riesiger Unterschied, eine tiefe
Kluft würde sich auftun. alle Zartheit wäre dahin. Die Andeutungen Hebels genü-
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