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ihrer Schwester und deren Familie in Kippenheim aus ihrer Gefühlswelt. Sie bringt
in ihrer Nachricht ihre Enttäuschung über den Verlauf der Festtage zum Ausdruck:
„Wie wir Sedernacht [sie schreibt ..seiter nacht-*, U.S] halten brauche ich Euch
nicht zu schreiben, da Ihr euch [das] doch denken könnt. Ich freue mich auf keinen
j't (= jom tov = Feiertag) und auf nichts mehr." Die Müllheimer Jüdin zeigt sich
erstaunt darüber, dass ihr keiner ihrer sechs Kippenheimer Brüder zu Pessach geschrieben
hat. Diese kümmerten sich nicht mehr um die ..ausgeheiratete" Schwester
. Es hat zudem den Anschein, dass das Ehepaar Meyer keine Kinder (oder keine
mehr) gehabt hat. Auch hier könnte vielleicht eine Ursache für die traurige Grundstimmung
an diesem Feiertag zu finden sein, die in dem kurzen Brief abschnitt zum
Ausdruck kommt. Der gute Kontakt zu ihrer Schwester in Kippenheim dürfte ein
gewisser persönlicher Halt für Charlotte Meyer gewesen sein.
Alle vier mit dem Brief in Verbindung stehenden Frauen und Männer sind
Vorfahren und gemeinsame Verwandte von Kurt Weill bzw. Selma Stern aus dem
19. Jahrhundert. Das Schreiben wurde von dem in Müllheim lebenden jüdischen
Ehepaar Jacob Elias Meyer (1818-1883) und Charlotte Meyer, geb. Weil (1824-?)
verfasst. Bei der Frau handelt es sich um die Großtante von Kurt Weill. Adressaten
des Schreibens waren der Kippenheimer Weinhändler Samuel Durlacher
(um 1817-1876) und seine Ehefrau Sara Durlacher geb. Weil (1821-1889), eine
Schwester von Charlotte Meyer. Sie war die Großmutter von Selma Stern. Die
Briefpartner/innen stehen für drei jüdische Familien, die lange Zeit im südbadi-
schen Raum beheimatet waren.
Die Meyers
Die Familie des Kaufmanns Jacob Elias Meyer war schon seit den ersten Jahrzehnten
des 18. Jahrhunderts in Müllheim ansässig.14 Der Familienname, der auf
den hebräischen Namen TNÖ („Mei'r"' = der Erleuchtete) zurück geht, war in
Müllheim in großer Zahl und in verschiedener Schreibweise innerhalb der jüdischen
Gemeinde vertreten. Noch heute lassen sich verschiedene ehemalige Wohnhäuser
der Großfamilie ausfindig machen.- Jacob Elias Meyer war die fünfte
Generation nach Israel Mey er (gest. um 1760/1770). den man im Jahr 1725 als Begründer
der Müllheimer Familienlinie unter den sechs in der Gemeinde ansässigen
jüdischen Familienoberhäuptern findet. Günter Boll vermutet, dass Israel Meyer
aus dem fürstenbergischen Ort Stühlingen nach Müllheim gekommen war.:* Über
Israels Sohn Jakob Mey er (gest. 1756). seinen Enkel Mey er Jacob (um 1740-1825)
sowie den Urenkel Elias Meyer (1776-1864) kann man die männliche Familienlinie
bis hin zu Jakob Elias Meyer verfolgen. Dieser galt als durchaus angesehener
Bürger in der Markgräfler Kleinstadt. Als sein Beruf wird ..Handelsmann und Geschäftsagent
" angegeben.1" Von 1850 bis 1862 gehörte er dem Synagogenrat der
Israelitischen Gemeinde Müllheims an. die 1858 fast 400 Mitglieder und somit
rund 14% der Gesamtbevölkerung zählte.- Am 20. Februar 1845 hatte sich Meyer
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