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der ehemaligen Landjuden später zumeist nur noch wenige Erinnerungsstücke an
die eigene Familiengeschichte. Die Frage drängt sich auf. durch wie viele und vor
allem durch welche Hände der überlieferte Brief in den zurückliegenden fast 150
Jahren gegangen ist. Woran konnten die Erben der landjüdischen Kultur ihre eigene
Erinnerung und das ihnen Berichtete festmachen? Welche Bedeutung hatte diese
Herkunft für sie? Schließlich wäre die Behandlung der Frage, welches Bewusst-
sein die Abstammung aus landjüdischen Gemeinden innerhalb der verschiedenen
Generationen hervorgerufen hat und ob hierbei konstitutive Begriffe wie „Identität
" oder „Heimat" angemessen sind, eine wichtige Aufgabenstellung für die zukünftige
Forschung.5' Erkenntnisse über die Wahrnehmung des landjüdischen Milieus
am Oberrhein durch dessen faktische Erben könnten die Einschätzung dieser
Lebens weit weiterführend beeinflussen. Die Beschäftigung mit den Positionen von
Kurt Weill und Selma Stern lässt an dieser Stelle schon deutliche Unterschiede erkennen
. Was Kurt Weill betrifft, so wurde mittlerweile herausgearbeitet, dass sich
seine Einstellung zu seiner jüdischen Identität nicht in einer „geradlinigen Weise,
sondern in einem mehrschichtigen, individuellen Prozess vollzogen" hat und allzu
kontrastierende Einschätzungen oder Periodisierungen fehl am Platze sind.541
Gleichwohl kann behauptet werden, dass für Weill der landjüdische Bezugsrahmen
seiner väterlichen Familie mit der dort überwiegend in orthodoxer Weise praktizierten
Frömmigkeit schon bald kaum noch relevant war. Der in den 1930er und
1940er Jahre Weltruhm erlangende Komponist war sich seiner Abstammung „aus
einer jüdischen Familie, die ihre deutsche Vergangenheit bis auf das Jahr 1340 zurückleiten
kann"" . sicherlich bewusst. Für besonders richtungsweisend hat er seine
Familientradition in Südbaden jedoch nicht erachtet. Bislang liegen auch keine
konkreten Hinweise darauf vor. dass Weill jemals wieder die dortigen Heimatgemeinden
seines Vaters, seiner Großeltern. Großonkel und -tanten aufgesucht oder
ein gesteigertes Interesse für deren soziales und kulturelles Umfeld aufgebracht
hat. Mit dieser Indifferenz in genealogischen Belangen könnte es auch zu erklären
sein, dass er Selma Stern seinem Vater einmal als dessen Cousine präsentierte
(und damit eine Generation übersprang) und ihm Sterns Ehemann Eugen Täubler
unrichtigerweise als Autor einer Weill-Genealogie vorstellte.56 Noch Weills Müll-
heimer Großtante Charlotte Meyer hatte sich des .Judendeutschen" und dabei spezieller
regionaler Spracheigentümlichkeiten bedient. Solchermaßen landjüdische
Elemente spielten für Weills eigenen privaten und künstlerischen Werdegang keine
prägende Rolle mehr. „Mir ist das völlig egal, woher ich stamme." Diese Aussage
des aus Hohenems und damit ebenfalls aus dem alemannischen Raum herstammenden
jüdischen Schriftstellers Jean Amery (1912-1978) könnte auch auf Kurt
Weill übertragen werden. Amery. der eigentlich Hans Maier hieß, hatte mit Hohenems
„eigentlich nur noch sehr wenig zu tun", ebenso wie Weill im Verlauf seines
Lebens mit Kippenheim oder Müllheim.5"
Für die Historikerin Selma Stern hingegen blieb die Rückbesinnung auf die Lebenswelt
ihrer Vorfahren stets ein Identität begründender sowie wissenschaftlich
anregender Faktor. Die aufstrebende Wissenschaftlerin eignete 1925 den ersten
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