http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/mgl-2007-01/0153
Abb. 3: Heinrich Zschokke
Stich von M. Eßlinger nach einer Zeichnung
von J. Notz. 1825
dann setzte er seine wechselvolle Geschichte von 1804 bis 1879 in Aarau fort. In
einer von Zschokke hierfür geschriebenen Anekdotenauswahl unter dem Titel Der
Neujahrsmorgen finden wir eine Anekdote, betitelt Wahrheit gilt nichts, in welcher
Kunz den Neujahrs-Vorsatz fasst. immer die Wahrheit zu sagen:
Er w ollte mit den Wahrheitsreden gleich am ersten Tage des Jahres den
Anfang machen, und Keinem etwas wünschen, was ihm nicht nützlich
wäre. Er kam zum Nachbar, der ein Kaufmann war. ..Herr Nachbar, ich
wünsche Euch", sagte er zu ihm. ..gute Wäare und ein enges Gewissen, daß
Ihr Niemanden übervortheilt. und hintergehet, so werdet Ihr vor Gott und
Menschen große Ehre haben."- „ Was? " schrie der Kaufmann, und warf ihn
zur Thüre hinaus: ..Hältst du mich für einen Betrüger? "(S. 44)
Die Anekdote selbst ist unbedeutend: interessant ist. dass sie in einem Kontext vorkommt
, der ein moralisches Problem untersucht, indem dem Leser die verschiedenen
Antworten präsentiert werden, die Kunz bei einer Meinungsumfrage repräsentativer
Personen - vom Handelsherrn zum Ladenbesitzer, sowie einem Schneider, einem
örtlichen Regierungsbeamten einer jungen Frau und schließlich dem Pfarrer - erhält
. So ist dieses faszinierende kleine Werk eine Fusion der sogenannten satirischen
Revueform des späten 15. und frühen 16. Jahrhunderts mit der für die Kalendergeschichte
typischen Technik des Einzelfalles und der modernen Meinungsumfrage.
Die Gesellschaft ist Zschokkes eigentliche Zielgruppe, indem deren repräsentative
Mitglieder in einer Waage gewogen und zu leicht befunden werden: ein ganzes Panorama
wird durch eine Folge von treffenden kleinen Episoden geschaffen, von denen
ohne weiteres jede für sich als eine kleine Kalendergeschichte gedient haben könnte.
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