http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/mgl-2007-01/0154
Der Kaufmann kommt in Wickrams Erzählungen immer wieder vor, was hinsichtlich
der üblichen mundartlichen deutschen Erzählkunst des 16. Jahrhunderts
keine Ausnahme war. Der Priester. Pfarrer oder ehemalige Mönch waren eine
andere Zielscheibe seines nachreformatorischen Spottes. Der Gottesmann kommt
aber ebenso selten auf den Seiten der Almanache des 19. Jahrhunderts vor wie
der Diener des Mammon, was kaum erstaunlich ist, da beide, Hebel und Gotthelf.
Pfarrer waren. Aber waren sie wirklich zu einem selbstkritischen Schmunzeln unfähig
: beabsichtigten sie wirklich, diese Hauptfigur in der langjährigen Erzähltradition
, die sie fortsetzten, über Bord zu werfen? Hebel bringt beide Standardfiguren
in seiner Anekdote Die Raben (Z 175) zusammen. Wie so viele seiner Geschichten
scheint sie zunächst einfach; ihre Bedeutung geht dem Leser erst später auf. Sie
liest sich wie folgt:
Zwei gute Freunde, ein Geistlicher und ein Kaufmann, machten miteinander
eine Reise. Der Kaufmann neckte im Spaß den Geistlichen, und der
Geistliche neckte den Kaufmann. Nicht weit von dem Hochgericht, als die
Rahen aufflatterten und den beiden um die Köpfe flogen, sagte der Kaufmann
: „Da haben wir's! Es ist kein Schick dabei, wenn man mit einem
Geistlichen reist."- Denn manche Leute glauben sonst, es bedeute ein Unglück
, wenn einem die Raben über den Kopf fliegen. - Der Geistliche sagte:
„Glaubt doch nicht so einfältige Fabeln, ein Mann, wie Ihr seid. Ich habe
in kurzer Zeit mehrere armen Sünder zum Tod begleitet. Jetzt meinen die
dummen Tiere, ich bringe wieder einen und halten Euch für gute Beute".
Der Kaufmann sagte: „Herr Pfarrer, Ihr seid ein loser Vogel!"
Die humoristisch satirische Absicht ist im Falle Gotthelfs sogar mehr versteckt:
am erfolgreichsten ist sie in einem einzigartigen Beitrag seinerseits zum „Missver-
ständnis"-Genre. Was so eindrucksvoll an dieser Erzählung im Berner Kalender
von 1841 ist, ist. dass der Pfarrer selbst durch Abwesenheit glänzt. Der Schauplatz
ist ein Friedhof: ein alter Mann wird beerdigt, und seine "rüstige Witfrau' folgt
dem Sara, in ihr Taschentuch schluchzend, 'dass es einen Stein hätte erbarmen
mögen". Aber dann stellt es sich heraus, dass der Sarg nicht ins Grab passt:
Lauter und immer lauter jammerte das arme Weib. Der Totengräber kam
mit dem Sarge nicht zurecht und sagte zu seinen Handlangern: „Mr müsse-
ne chehre!" Plötzlich stockte das Schluchzen, hörte der Jammer auf, vom
Gesichte flog das Schnupftuch, und mit bleichem Gesicht, aber gleitigen
Beinen sprang das Weib herbei und fragte in höchstem Schrecken: „Herr
Jeses! Was! wott er sih no wehre? "S)
Obwohl die Geschichte witzig ist. legen ihre Andeutungen von Gier, beabsichtigter
Vernachlässigung und sogar Mord eine düstere, beunruhigendere Dimension
nahe, als der anfängliche Erzählton impliziert. Man müsste beschränkt sein nicht
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