http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/mgl-2007-01/0162
Welche Schlussfolgerungen lassen sich aus diesem Abriss der alemannischen
Tradition des Geschichten-Erzählens ziehen? Hebels Blick fürs Detail und sein
Gehör für die äußere Form und die innere Bedeutung von Sprache sind wesentlich
an eine Tradition angeschlossen, die auf Wickram zurückgeht. Seine Kalendergeschichten
teilen andere auffällige Merkmale mit den Geschichten seiner Vorläufer
im 16. Jahrhundert und ihre Welten umfassen ungefähr dasselbe geographische
Gebiet und sind von fast denselben Leuten bewohnt - Standardtypen sind es wie
der Kaufmann, der Soldat, der Bauer und der Jude. Wie Wickram und Talitz von
Liechtensee spielt auch Hebel die anstößige und oftmals kindische Geschmacklosigkeit
herunter, die mit der Schwanktradition in anderen Teilen Deutschlands
verbunden ist. zugunsten eines Tones, der mehr darauf zielt, in der Gesellschaft die
Eintracht und das Verständnis zu fördern - was auch das Ziel Heinrich Zschokkes
ist. Lobenswerte Vorsätze schützen keinen von ihnen davor, seinen Wirklichkeitssinn
zu verlieren. Ihre Kunst wird dazu gebraucht, das Menschsein zu erkunden:
ihre ..Ortsverbundenheit" ist somit eine natürliche Begleiterscheinung ihrer Kunst
und ihres moralischen Vorsatzes. Hebel wagte sich zwar jenseits der Grenzen des
deutsch-sprechenden Gebietes vor, das seine Leser bewohnten und das er aus erster
Hand kannte: überdies war es im alemannischen Gebiet auch schon lange Tradition
, Lehrlinge in fremde Gebiete zu schicken, um dort ihr Gewerbe zu erlernen,
bzw. Söldner an fremde Herrschaften zu liefern. Die „Landsknechte" Wickrams
sind die Vorläufer von Hebels Soldaten, für welche Paris. Berlin und Moskau während
der Napoleonischen Kriege Wirklichkeit wurden. Mit Gotthelfs Geschichten
für den Berner Kalender schließt sich der Kreis wieder: von nun an zieht sich die
alemannische Erzähltradition hinter die Grenzen der Schweiz zurück, wo sie ihre
meisterhafte Erneuerung in Gottfried Kellers Novellensammlung Die Leute von
Seldwxla erleben wird.
Queller:
Die im Text eingefügten Bilder wurden mit freundlicher Genehmigung des Alfred-Kröner-Verlages.
Stuttgart (J. Gotthelf: J. Wickram. ..Rollwagenbüchlein: J.P. Hebel) sowie der Zentralbibliothek Zürich,
grafische Sammlung (H. Zschokke) gedruckt.
Anmerkungen
1) J.P. Hebel. The Treasure Chest. Übers, von John Hibberd (London: Libris. 1994). Einleitung.
S. XIX.
2) Muschg spricht davon als ..das enge Gehäuse". Siehe Walter Muschg. Jeremias Gotthelf. Eine Einleitung
in seine Werke (Bern: Francke. 1954). S. 195 - 202 (S. 196). Als umfassendere Darstellung
siehe Abschnitt ..Gotthelf als Kalendermacher" in Karl Fehr. Jeremias Gotthelf (Zürich: Büchergilde
Gutenberg. 1954). S. 254 - 69.
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