http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/mgl-2010-02/0107
lern um an den Theologen und Prediger Hebel zu erinnern: Hebels Protestantismus
war während seiner Erlanger Studienzeit durch Professoren geprägt worden, die
Glauben und Vernunft nicht als unüberbrückbare, unversöhnliche Haltungen verstanden
, sondern in deren Verknüpfung eine rationale Theologie entwarfen bzw.
weiterentwickelten: Gotteserkenntnis, Offenbarung und menschlicher Verstand gehören
zusammen. Theodor Heuss merkte 1952 in seiner Schatzkästlein-Rede zum
Thema „Theologie-Studium Hebels" spitzbübisch an: „Ich würde Hebel heute nicht
empfehlen, sich in Basel zum theologischen Examen zu melden. Denn das Spekulativ
-Philosophische und das Dogmatisch-Eschatologische lagen ihm gleich fern."
In Hebels letztem großen Werk, dem Christlichen Katechismus von 1824, begegnen
wir dieser aufgeklärt-gläubigen Grundüberzeugung immer wieder.
Lesen wir jetzt in Hebels knapp 40 überlieferten Predigten nach, so sind wir zunächst
enttäuscht: Es sind meist konventionelle, oft recht sterile, wenig lebendige Texte
, die kaum eine Entwicklung vom jungen zum alten Hebel erkennen lassen. Bezüge
zur aktuellen, gar politischen Wirklichkeit suchen wir vergebens - und doch sollten
wir uns wenigstens zwei Predigten etwas genauer anschauen; zunächst die vom zweiten
Osterfeste 1788 über Lucas 24,13-35 - vor einer Landgemeinde gehalten, und
zwar zu Grenzach bei Basel. Sie ist die früheste von Hebel überlieferte Predigt des
28-jährigen Vikars (der noch fast zwanzig Jahre später von einer Grenzacher Pfarrstelle
träumte!). In dieser Predigt ermahnte der Vikar seine Gemeinde: Ihr müsst euern
ganzen Lebenswandel so führen, wie Jesus es gerne hat, wenn ihr ihn jetzt unsichtbar
bei euch haben, und ihn einst mit Freude im Himmel sehen wollt. Wer von euch still
und sanftmütig ist, befindet sich der gern in einer Gesellschaft, wo getobt, gezankt,
geflucht wird? Wer von euch arbeitsam und fleißig ist, ist der gerne unter Leuten, die
den gesamten Tag nichts tun? Gewiss nicht. Jeder Mensch ist am liebsten bei denen,
die auch so denken, reden und tun wie er. Anders gehet es Jesus nicht.
Von wesentlich größerer Bedeutung ist für uns eine Predigt, die aus Hebels letzten
Lebensjahren stammt, unvollendet geblieben ist und wohl nie gehalten wurde. Ins
Zentrum dieser Antrittspredigt vor einer Landgemeinde stellte Hebel seine eigene
Biographie, nicht um sich ins Rampenlicht zu rücken, sondern um der Gemeinde
zu sagen, auf welchen Weg mich Gott zu euch führt. Ich wünsche euer Vertrauen
zu gewinnen, damit ich den Weg zu euern Herzen finde. Ich bin von armen, aber
frommen Eltern geboren, habe die Hälfte der Zeit in meiner Kindheit bald in einem
einsamen Dorf, bald in den vornehmen Häusern einer berühmten Stadt zugebracht.
Da habe ich frühe gelernt, arm sein und reich sein. Ich habe schon in dem zweiten
Jahre meines Lebens meinen Vater, in dem dreizehnten meine Mutter verloren. Aber
der Segen ihrer Frömmigkeit hat mich nie verlassen. Ich erhielt die Weihe des geistlichen
Berufs. An einem friedlichen Landorte, unter redlichen Menschen als Pfarrer
zu leben und zu sterben, war alles, was ich bis auf diese Stunde immer gewünscht
habe. Aber, o Gott, auf welchem langen Umweg hast du mich an das Ziel meiner
Wünsche geführt!
Ein bewegendes autobiographisches Dokument, das bis heute in kaum einer Hebel
-Biographie fehlt.
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