http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/mgl-2010-02/0122
des Land- und Seekreises Konstanz (vermutlich am 29. Dezember 1811). Hebel
komponiert dabei ein lateinisches Wortspiel. Er äußert, dass er am liebsten aus
Karlsruhe „wegflattern"18 würde in Ittners „provincia maritima", also seinen (katholisch
geprägten) Bezirk am See. Sie ist ihm aber als „ketzerischem Menschen4'
- Hebel ist evangelisch - verschlossen. Er fährt fort: Quod ni ita esset, rogarem
abs Te, ut me in Circuli Tui angelo quodam reciperes, in quo Pastoris muneribus
jüngerer, certe pastoritia carmina canerem." (B 517; Hervorhebung H.Z.) Ich
übersetze folgendermaßen: „Wenn das nicht so wäre, bäte ich dich, mich in irgendeinem
Winkel Deines Kreises aufzunehmen19, in dem ich den Dienst eines
(Seelen-) Hirten verrichtete (und) gewiss Hirtengesänge20 sänge. Das Spiel mit
dem Hirten-Wortfeld „Pastoris - pastoricia" sticht heraus. Das Eigenschaftswort
„pastoritius" bedeutet „zum Hirten gehörig, Hirten-", hier also Hirten-lieder. Hebel
stellt eine bewusste Beziehung her und verstärkt sie durch die Parallelität der
beiden Tätigkeiten: Er will als Seelenhirte arbeiten - er will Hirtenlieder anstimmen
. Hebel verbindet also in seiner Vorstellung mit der Pfarrertätigkeit das Anstimmen
eines neuen Hirtengesangs, was im Jahr 1811 für den bereits voll belasteten
Schul- und Kirchenmenschen bedeuten würde: ein Aufquellen seiner versiegten
Dichtkunst.21
Hebel bezeichnet sich diesmal (anders als im Motto der Erstauflage der Gedichte
) ausdrücklich als Hirten im Blick auf eine Tätigkeit als Landpfarrer und
bringt das unmittelbar mit der (alemannischen) Dichtung in Verbindung. Es geht
um Hirtendichtung, „Pastoralpoesie". Man kann demnach die Gedichte nicht loslösen
von diesem selbst bekundeten eigenen VerstehensSchlüssel! Ihre Absicht ist
die, Hirtenlieder eines Seelenhirten zu sein.
5. Die beiden Bemerkungen machen also deutlich, dass Hebels theoretische und
praktische Bemühungen um eine „Kunst für kleine Leute" (Popularästhetik) in den
Zusammenhang seiner Tätigkeit als Geistlicher gehören. Werden sie berücksichtigt
, kann man diese Kunstauffassung nicht „neutralisieren", also die Inhalte für
austauschbar halten. Das (Land-)pfarramt, mithin die Tätigkeit eines Geistlichen,
ist also der gedanklich-ideelle, äußere und innere Bezugshorizont sowohl für die
Theorie als auch die Praxis seiner Kunst. Dieser Bezugsrahmen ist erkennbar auch
ohne die beiden Bemerkungen, wenn man allerdings den Zusammenhang von Hebels
Nachdenken nicht außer acht lässt. Man verliert ihn aber aus dem Auge, wenn
man nur einzelne Textausschnitte nimmt und als Belegmaterial zitiert.
Hebel geht es bei dem Uranliegen der Aufklärungsepoche um mehr als „technische
" Überlegungen: etwa lediglich die Frage nach den Bedingungen, wie Wissensstoff
einer bestimmten Hörergruppe, eben dem ungebildeten Volk, nahe gebracht
werden könne. Hebels denkerische Anstrengung hat ihren Anlass in Fragen
zu Predigt und Gebet im Gottesdienst. Er setzt sich in seinem Amt (und wie er sich
als Pfarrer vorstellt) voraus und setzt das in seinen Überlegungen mit. Er widmet
sich diesen schwierigen Fragen nicht im dichterischen, sondern in pfarrberuflichem
(pastoraltheologischen) Zusammenhang.
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