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Abb. 6: Illustration zu Hebels Geschichte von Johann August Hagmann aus der „Schatzkästlein"-
Ausgabe des Amerbach-Verlags Basel 1947
der vierten Strophe des Liedes „Wer nur den lieben Gott lässt walten" von Georg
Neumark. In seiner Lörracher Abschiedspredigt zitiert Hebel die genannte Strophe
ausführlicher: „Er kennt die rechten Freudenstunden, und weiß wohl, was uns
nützlich sey. Wenn er uns nur hat treu erfunden, aufrichtig ohne Heucheley; so
kommt er, eh' wir's uns versehn, und lässet uns viel Gut's geschehn."17 In dieser
Predigt machte Hebel das Leiden der Menschen zu seinem zentralen Thema. Hebels
Grundüberzeugung gipfelte in den Sätzen: Warum muß die Stunde früh oder
spät kommen, in welcher wir (...) den Tod unserer altern Freunde sehen müssen?
Weil sie Menschen sind. Warum werden wir alt? Weil wir jung waren. Warum können
wir unser Vermögen verlieren? Aus dem nämlichen Grund, weil wirs erwerben
konnten, weil es eine wandelbare, unstete, flüchtige Sache ist. Es ist eine genau zusammenhängende
Kette; es müsste alles anders seyn, oder es muß alles so seyn,
wie es jetzt ist. Doch diese unveränderliche Nothwendigkeit ist keine harte traurige
Nothwendigkeit. Auch Leiden sind Wohlthat, sie sind ein eben so wesentlicher
Bestandtheil unsers Glücks, als die Freuden. (...) Der Regierer unserer Schicksale
müsste uns keine Freuden gegönnt haben, wenn er uns keine Leiden zugedacht
hätte.
In dieser theologischen Sichtweise erscheint die Distanz des realistischen Erzählers
in der Leiden-Geschichte nicht als „merkwürdig unbeteiligte (...) Geschichtsschreibung
, die sich um ein paar hundert Tote nicht kümmern kann"18, sondern als
Ausdruck tiefer Religiosität, im Sinne der Gelassenheit des Menschen angesichts
der Unendlichkeit Gottes, angesichts der Tatsache, dass nur aus dem Annehmen
von Leid wieder Glück erwachsen kann - und Mitleid und Hoffnung auf Frieden
auf dieser immer wieder bedrohten Erde: Bezeichnenderweise beendet Hebel seine
Leiden-Geschichte, wie sie sonst - meines Wissens - nirgends überliefert ist:
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