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Die Ortenau: Zeitschrift des Historischen Vereins für Mittelbaden
42. Jahresband.1962
Seite: 34
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lichkeit durch die anhaltende Erzählerfunktion verbürgt wird. So ist die Zeitform
der persönlichen Erinnerung immer mit fortrollender Gegenwart verbunden; der
Faden der Handlung wird höchstens verknotet, aber niemals abgeschnitten. Diese
Romane können immer neue Fortsetzung finden; so ist dem Alemanschen Gusman
bereits in Spanien ein zweiter Teil von fremder Hand beigefügt worden, und des
Albertinus Bearbeitung wurde in Deutschland durch Martin Freudenhold abermals
aufgestockt. Grimmelshausen hat sie alle gelesen: den dreiteiligen Gusman, den
I.azarillo de Tormes, den Francion des Sorel, die von Niklas Uhlenhart in Prag
lokalisierte und mit dem Lazarillo eines anderen Übersetzers in Buchform vereinigte
Novela picaresca des Cervantes wie die Picara Justina des Ubeda, die zu
einer deutschen Landstörtzerin Justina Dietzin geworden war. Er hat der Schelmenzunft
mit einer Art verwandtschaftlichen Gefühls ins Auge geblickt, da eigene
Lebenserfahrung anklang und durch diese Schicksale erweitert werden konnte.
Die scharfe Wirklichkeitsbeobachtung, die er in den ebenfalls auf spanisches Urbild
zurückgehenden satirischen Gesichten Moscheroschs bereits auf das Soldatenleben
des Dreißigjährigen Krieges gerichtet sah, konnte durch diese Muster nur verstärkt
werden.

Dem idealistischen Roman in allen seinen damaligen Spielarten trat hier eine
realistische Gegenwartsdarstellung gegenüber, die des Lebens Niederungen behaglich
ausbadet, nach seinen Höhen als einem vergänglichen Schein von trügerischer
Dauer zweifelnd emporblickt und im Widerspruch zu der stoischen Stand-
haftigkeit eines übersteigerten Heroismus die menschliche Unbeständigkeit als
Schicksal des Diesseits betrachtet, die Frau abwertet und die schlaue Wendigkeit
der Anpassung als Lebensform der Welt triumphieren läßt. War solche Gelassenheit
eines Memento vivere mit den ekstatischen Todes- und Bußgedanken der
spanischen Askese vereinbar? In der Tat stehen wir hier vor einer Polarität
im barocken Lebensgefühl, das Naturalismus und Mystik, skeptische Ironie und
Wunderglauben, Sinnengenuß und Weltabsage in derselben Grundanschauung der
Vanitas, der Nichtigkeit, Vergänglichkeit und Unbeständigkeit alles Irdischen
umschließt und in sich hegt. Die verzückten Gesichte des heiligen Antonius und
die entzückenden schmutzigen Bettlerknaben des Murillo stammen aus demselben
Atelier und verhalten sich zueinander wie Asket und Picaro. In der literarischen
Form der Lebensbeichte aber werden kraß-frivole Realität und ernst-heilige Einkehr
als Kehrseiten derselben Haltung verkörpert. In der von Spanien ausgehenden
Reformbewegung des Katholizismus konnten daher die Schelmenromane als Beförderungsmittel
zur Lebenskenntnis und Weltverachtung mitgenommen werden.

Simplicius Simplicissimus ist indessen kein Picaro geworden. Grimmelshausens
Reaktion auf die spanischen Einflüsse bestand darin, daß er den Charakter
seiner Hauptperson in Selbstbezogenheit verpersönlichte und eindeutschte, daß er
ihm die proletarische Herkunft nahm und ihm edles Blut gab, daß er aus eigenem
Erlebnis einen großen Zeithintergrund aufrollte und gewissermaßen das Schicksal
ganz Deutschlands mit dem seines Helden verband, daß er eine Entwicklung des
Simplicissimus anstrebte, die mit der Rückkehr zu dem Einsiedlerleben des Vaters
einen künstlerisch gerundeten Abschluß finden sollte. Aber dabei blieb es nicht: die

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