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Die Ortenau: Zeitschrift des Historischen Vereins für Mittelbaden
53. Jahresband.1973
Seite: 70
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let und gestrafft: als die aigne Untugenden freundlich corrigirt werden"94. Die
noch ungleich ausgeprägte Lebensform des Bürgertums erklärt die Heterogenität
der bürgerlichen oder - wenn man will - frühbürgerlichen Romane. Dazu tritt
der beträchtliche Unterschied, der zwischen städtischem und kleinstädtisch-ländlichem
Bürgertum bestand. Aber nicht auf den Abbildcharakter des Dargestellten
kommt es ja an, sondern darauf, in den Erzählungen, Figuren und Lokalitäten
(ob historisch festlegbar oder nicht) das Allgemeine, das Prinzipielle, das Grundsätzliche
und dies letztlich immer im Hinblick auf Tugend und Laster sichtbar
zu machen. Nur insofern sie Ethisches zum Ausdruck bringt, ist Literatur im 17.
Jahrhundert legitimierbar. Nicht grundsätzlich, sondern nur im Hinblick auf ihre
ständische Bindungen unterscheiden sich der höfische und bürgerliche Roman.
Freilich, indem der bürgerliche Roman Werte, Normen und Maßstäbe der bürgerlichen
Welt auf satirische Weise vergegenwärtigt, greift er zu anderen Stoffen
als der höfische, der als Satire kaum denkbar ist.

Dies zeigt sich auch bei Grimmelshausen: Simplex macht Erfahrungen in der Welt
und bildet dabei über Rückschläge, Verirrungen und Verfehlungen eine praktische
Klugheit aus, die ihn gegen Fährnisse gefeit macht und tüchtig. Immer wenn er
unklug, selbstisch, begierlich und rücksichtslos handelt, geht es schief, erfährt er
die Strafe. Hinter einem solchen Leitbild des Lebens stehen jene bürgerlichen
Wertvorstellungen von Redlichkeit, Leistung, Bewährung und Tüchtigkeit, die
die Voraussetzung dafür waren, daß dieser Stand - trotz Krieg und Zerstörung -
im Laufe des 17. Jahrhunderts immer mehr Gewicht, Bedeutung und schließlich
auch Macht gewann. Neben die Orientierung an Erfahrung und Bewährung tritt
der für den christlichen Bürger des 17. Jahrhunderts so elementare Glaube an
eine von Gott geordnete Welt, in der dem Menschen - dem einfachen Bürger zumal
- ein hohes Maß an Leiden und Qual beigemessen ist. Es ist eine ,schnöde
Welt', aus der sich Simplex mit einem ,Adieu' der Erleichterung zurückzieht. Sie
ist aber nicht schnöde, weil das Unrecht in ihr herrscht, sondern weil Gott sie
unvollkommen geschaffen und dem Menschen zur Bewährung überantwortet
hat.

Der Hinfälligkeit alles Irdischen waren aber nicht nur die Bürger, sondern auch
die Fürsten und die Adligen unterworfen. Für den Bürger, der sich in der realen
Welt zu bewähren hatte und - ohne Vorgabe — nur durch Leistung und Tüchtigkeit
seine Existenz sichern und in der Hierarchie - wenn auch nur geringfügig -
aufsteigen konnte, für ihn mußte das Leistungsethos zum Glauben an die Vergänglichkeit
alles Irdischen in eine Spannung treten, die nur schwer zu ertragen und
nur mühsam zu rechtfertigen war. Im „Simplicissimus" des Grimmelshausen sehe
ich ein Dokument von hohem literarischem Rang, in dem die Bereitschaft des
Bürgers, die reale Welt als Erfahrungs- und Bewährungsraum anzunehmen, mit
dem Glauben an die Hinfälligkeit alles Irdischen eine feste Verbindung einge-

94 Grimmelshausen, Gesammelte Werke, Bd. 1, S. 472. — Walter Ernst Schäfer weist in seinem Aufsatz
„Der Satyr und die Satire" anhand des Titelhupfers des „Simplicissimus" die satirische Grundabsicht
des Autors sehr überzeugend nach (Rezeption und Produktion zwischen 1570 und 1730. Bern und München
1972. S. 183—232. Festschrift G. Weydt).

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