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Die Ortenau: Zeitschrift des Historischen Vereins für Mittelbaden
57. Jahresband.1977
Seite: 63
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die Becherverwandlung, das Umherziehen mit dem Don Quij otehaften mageren
Dragoner und dem in anderer Weise Don Quij otehaf ten idealistischen Narren
Jupiter. Ferner die Speckdiebstahlgeschichte, die Eroberungen des „in Wollüsten
ersoffenen" Simplicius im Venusberg, die Mummelsee-Expedition, die Weltreisen
und manches andere.

Was zunächst weniger fiktiv aussieht, sich bei näherem Hinsehen aber oft als
ebenso biographie-fern erweist, sind die derben, kraß naturalistischen, im
Spektrum vom Unsinnig-Grausamen bis zum Sinnlich-Sexuellen reichenden
Züge, Szenen und Witzworte.

Inwiefern bietet aber nun die Kontrastierung von Wirklichkeit und Dichtung,
die wir versucht haben, einen Schlüssel zum Verständnis dieses Werks? Wir
besitzen, wie gesagt, umfassende Darstellungen von größeren Vorgängen und
erstaunlicheren Einzelschicksalen, und auch an Schilderungen von Höhen und
Tiefen der Alltagswelt fehlt es nicht. Die Tatsache der Wiedergabe der Realität
allein kann also diesem Buch nicht zur Unsterblichkeit verholfen haben. Worin
liegt demnach das Besondere seiner Gestaltung? Wir nennen hierzu fünf
Punkte.

Erstens: Der Dichter bedient sich der damals von den Spaniern eingeführten
Form des „Schelmenromans". Zu dessen Besonderheiten gehört, daß alles in
der Ich-Form erzählt wird, womit dem Künstler die Möglichkeit gegeben ist,
die Welt vom Subjekt her, aus dem jeweiligen Gesichtspunkt eines „Ich" zu
betrachten. Die Personen und Dinge kommen dem Leser damit nicht mehr nur
vor Augen, wie sie angeblich sind, sondern wie sie erscheinen.

Zweitens: Der Dichter greift, ohne sein Prinzip der durchgängigen Darstellung
eines Lebens aufzugeben, über den Bereich der eigenen Biographie hinaus
durch die Integration, d. h. Einverleibung, von Novellen oder Kurzgeschichten
aus dem unermeßlichen Bestand der damaligen Weltliteratur. Er fand diese,
meist auf knappe Inhaltsangaben reduziert und mit erbaulichen Ausdeutungen
versehen, in den Schriften des um die Mitte des Jahrhunderts verstorbenen
Nürnbergers Georg Philipp Harsdörffer. Dessen Bedeutung für Grimmelshausen
übertrifft — weil er eben auch erzählerische Substanz und nicht nur Wissensstoff
vermittelt — sogar die des Garzoni.4

Der „Simplicissimus" ist aber im großen auch geformt nach Gesetzen der
Komposition, und zwar, drittens, als ein Roman der Vatersuche. Wie ein roter
Faden zieht sich — ohne daß es der Leser immer merkt, aber er spürt es — der
Gedanke durch das Werk: Simplicius erfährt, wie er heißt und wer er ist:
nämlich Melchior Sternfels von Fuchsheim, der Sohn des Kapitäns Sternfels
von Fuchsheim und seiner verstorbenen Gemahlin Susanna Ramsay.

Dieses Leitmotiv der rätselhaften Abstammung, des Seine-Herkunft-Findens
und des mehrfachen Vaterbildes erscheint im Buch von Anfang an und hält
sich bis zum Ende. Bereits im 1. Kapitel wird ja der Hof des „Knan" (der mit
diesem merkwürdigen Dialektwort nur anspielungsweise und unverbindlich
als Vater bezeichnet ist und sich später auch als der Ziehvater entpuppt) einem
großartigen Palast voll ritterlichen Rüstzeugs verglichen, wodurch die Spannung
zwischen bäuerlicher Herkunft und adliger Abkunft bereits angedeutet
ist. Aber auch an zahlreichen weiteren Stellen klingt das Motiv dann noch an:
beim steten „Wahn" des Simplicius, von edler Abkunft zu sein; beim Namen

4 G. Weydt, „Nachahmung und Schöpfung im Barock". Bern, München 1968, vor allem Kap. III—V.

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