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Die Ortenau: Zeitschrift des Historischen Vereins für Mittelbaden
57. Jahresband.1977
Seite: 64
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„Vater", den er dem Einsiedel im angeblich nur geistigen Sinne geben muß;
beim adelsstolzen Betragen; den Ahnungen des Gouverneurs; den Prophezeiungen
der Wahrsagerin von Soest; dem Auftauchen der Erzieher- und Vaterfiguren
; dann bei der Wiederbegegnung mit dem Knan, welchen Simplex in
der alten Rolle wieder annimmt, und schließlich bei der Einsiedelei am Ende,
mit der er in die Existenzform seines echten Vaters schlüpft.

Wir wollen ein viertes Gestaltungsprinzip nicht vergessen, das der Gliederung
des „Simplicissimus Teutsch" in fünf Bücher.^ Gelehrte unseres Jahrhunderts
wie Schölte und Petersen haben richtig erkannt, daß Grimmelshausen sich
hier an die Form des klassischen fünf aktigen Dramas anlehnt: Exposition,
steigende Handlung, Höhepunkt, fallende Handlung, Katastrophe, wie sie meinen
. Zur genauen Bestimmung dieses Faktums muß man allerdings sagen, daß
Grimmelshausen hier, wie immer in solchen Fällen, die Anregung ganz frei
verarbeitet. Schon die Tatsache, daß er die dramatische Theorie auf den Roman
anwendet, verrät seine völlige Souveränität. Er will auch gar keine dramatischen
Wirkungen erzielen, also nicht etwa Höhepunkt, Katastrophe usw. zeigen
, sondern eher eine sinngemäße Abfolge beispielhafter Zustände menschlichen
Lebens vergegenwärtigen. Für den Simplicissimus: Buch I, anfänglicher
Zustand, Unwissenheit und Unschuld als „Reiner Tor"; II, Fortschreiten zur
Welt als angeblicher „Narr"; III, Beherrschen der Welt als der „Jäger von
Soest"; IV, Beherrschtwerden von der Welt als umhergetriebener „Abenteurer"
und V, Erkennen der Welt als „Sucher".6 Der „Simplicissimus" ist also doch
eine Art Entwicklungsroman, nur nicht im Sinne des 19. Jahrhunderts.

Dieses immerhin an den fünf Büchern ablesbare Prinzip wird dann noch einmal
überlagert (fünftens) von dem Prinzip einer Gliederung nach den sieben
„Planeten". — Wer das verstehen will, muß sich klarmachen, daß nach dem
Glauben früherer Jahrhunderte alles auf der Welt in seiner Art und Gesetzmäßigkeit
mit einem der sieben Weltcharaktere, als die man die sieben sichtbaren
Wandelgestirne ansah, verbunden ist. Wir können den Beweis für Grimmelshausen
hier nicht noch einmal erbringen. Er ergibt sich aus den Materialien
in seinem eigenen Kalender und den allgemeinen Anschauungen der
Epoche.7 Nur soviel sei gesagt: Grimmelshausen färbt seinen Roman durchgehend
im Sinne der Reihe Saturn, Mars, Sonne, Jupiter, Venus, Merkur,
Mond. Dem Saturn gehört das Anfängliche, Schwere, Beständige usw., dem
Mars Eisen, Schrecken und Krieg, der Sonne Völlerei aber auch „guter Verstand
", dem Jupiter Erfolg, Macht, Reichtum, „Umgang mit hohen Herren"
und die Jagd („Jäger von Soest"), der Venus nicht nur Liebe sondern auch
Luxus, allgemeine Lebensfreude und Musik, dem Merkur das Stehlen, Betrügen
, Wandern und Suchen und dem Mond Wechsel und Unbeständigkeit.

Diese Idee bietet dem Dichter nicht nur die Chance, sein Werk anzureichern
mit charakteristischen Elementen, wie sie sonst nie in der Erzählkunst auftauchen
, sondern obendrein, bei aller Vielfalt, von der äußersten Beständigkeit
und Weltferne über verschiedene Formen des Wechsels und des Glücks zur
Einsicht in die Unbeständigkeit der Welt zu führen. Durch diese Verbindung
von Realismus und Idee ist dieser Roman einzigartig.

5 Diese Fünfergliederung findet sich im „Simplicissimus Teutsch", der ursprünglichen Form des Romans
(1668). Etwas später hat Grimmelshausen bekanntlich das sechste Buch als „Continuatio" hinzugefügt.

6 Vgl. das Schema bei Weydt, „Nachahmung und Schöpfung im Barock", S. 301. — Frühere Ausführungen
über den Charakter der fünf Bücher bei Gundolf, Petersen, Schölte, Alt.

7 Etwa Klaus Haberkamm, „Des Abenteuerlichen Simplicissimi Ewigwährender Calender. Faksimiledruck
der Erstausgabe. Nürnberg 1671 mit erklärendem Beiheft", Konstanz 1972.

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