http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/ortenau1987/0097
Der gottesfürchtige Haudegen
Ritterliche Tugenden und Erzählabsicht in ,Peter von Staufenberg'
Niels Kranemann
Das Mittelalter erfreut sich steigender Beliebtheit.
Umberto Ecos ,,11 nome della rosa", Barbara Tuchmans ,,A distant mirror —
The calamitous 14 th Century" haben es einem unübersehbaren Publikum
nahegebracht; Otto Borsts „Alltagsleben im Mittelalter", Joachim Bumkes
„Höfische Kultur" stellen der Fachwelt neuerdings mit bewundernswerter
Sachkenntnis erarbeitete Forschungsgrundlagen zur Verfügung. Dieter Kühn
schließlich hat drei bedeutende Dichter des Mittelalters — Oswald von Wolkenstein
, Neidhart von Reuental und Wolfram von Eschenbach — in einer
Weise übersetzt, kommentiert und paraphrasiert, daß sie den zeitgenössischen
Lesern unmittelbar zugänglich geworden sind.1
Im übrigen werden dem Mittelalter bedeutende Ausstellungen mit materialreichen
Katalogen gewidmet, erscheinen mediävistische Monografien in rascher
Folge, versorgen überregionale Wochenblätter und Tageszeitungen ihre Leser
regelmäßig mit Informationen über die ,Welt des Mittelalters', äußern sich
renommierte Hochschullehrer als Kolumnisten zu Fragen ihrer Disziplin.
Dem Mittelalter, will uns scheinen, geht es gut. Es ist bekannt und beliebt.
Und doch wird man fragen müssen, ob „die Faszination, die die Welt des Rittertums
auf uns ausübt, nicht dadurch genährt wird, daß wir nur wenig Genaues
darüber wissen."2
Weil die historischen Quellen, aus denen wir unsere Kenntnisse vom mittelalterlichen
Leben schöpfen, nur spärlich fließen, konnte es in der Mittelalterphilologie
zu sehr wirklichkeitsfernen Beschreibungen und Deutungen der
höfischen Welt kommen, zu einer romantischen Auffassung vom Rittertum,
die fast in jeder Hinsicht falsch war.
Wer ein zutreffendes Bild von der höfischen Kultur des 12. bis 14. Jahrhunderts
gewinnen will, dem bleibt nichts anderes, als die literarischen Texte
immer wieder .unvoreingenommen' durch schon vorliegende Deutungen zu
lesen — selbstverständlich mit Blick auf historische Quellen, bildliche Darstellungen
und materielle Relikte jener Zeit.
In neuem Licht können dann plötzlich vor allem die Ziel- und Wertvorstellungen
mittelalterlicher Autoren erscheinen, die Absichten, die sie mit ihrem
schriftstellerischen Wirken verfolgt haben, ihre Weltanschauung, ihr Denk-
und Lebensstil.
Die folgenden Ausführungen haben sich die Analyse und Interpretation der
ethischen Begriffe und der Wirkungsabsicht des Autors der Verserzählung
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