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Die Ortenau: Zeitschrift des Historischen Vereins für Mittelbaden
77. Jahresband.1997
Seite: 542
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bereits geglückt war. Radolfzell meldete ähnliche Zahlen15. An einem einzigen
Tag im September fahndete die Kriminalpolizei Konstanz nach 9
Russen, Polen und Engländern, die aus Lagern im Grenzgebiet entwichen
waren16. Begünstigt wurde die Fluchtbewegung durch die zunehmende
ökonomische und militärische Desorganisation des nationalsozialistischen
Regimes.

Am 19. November erreichte die 1. französische Armee unter General de
Lattre de Tassigny den Rhein zwischen Basel und Mulhouse, am 21. November
besetzte sie Beifort und zwei Tage später Straßburg17. Inzwischen
war das südwestdeutsche Transportsystem, vor allem Verschiebebahnhöfe,
Streckenknoten sowie Wartungs- und Reparatureinrichtungen, zum vorrangigen
Ziel im Luftkrieg geworden, da hier der Nachschub an die Westfront
rollte18. Nach den alliierten Luftangriffen im Herbst, zumal nach der Bombardierung
von Offenburg und Freiburg am 27. November 1944, tauchten
viele Ausländer in den Wirren der Zerstörung unter. Wie die Behörden vermuteten
, hatten sie unter Umgehung des Arbeitsamts anderweitig, vor allem
in der Landwirtschaft, neue Arbeit gefunden. Oder sie hielten sich irgendwo
versteckt und wurden von ihren Kameraden verpflegt, wenn sie
sich Lebensmittel nicht durch Diebstahl beschafften19.

Auf diesem Hintergrund erscheinen die eingangs zitierten Warnungen der
Nazibehörden vor einem möglichen Aufstand der Ausländer in einem anderen
Licht. Daß sie sich den Deutschen gegenüber - deren Tage schon gezählt
schienen - selbstbewußter verhielten, darf mit Sicherheit angenommen
werden. Dennoch wäre jeder Aufstandsversuch selbstmörderisch gewesen
. Die Verfasser der Stimmungsberichte in den Kreisleitungen und
Rüstungsbehörden vermochten jedoch mit bemerkenswerter Übereinstimmung
eine Bedrohung durch Untergrundarmeen zu konstruieren. Es handelt
sich um den Keim zu einer Neuauflage der Dolchstoßlegende aus dem
ersten Weltkrieg: Nur von einer perfiden, plutokratisch-jüdisch-bolsche-
wistisch gelenkten Freischärlerbande, die ihr in den Rücken fiel, wäre die
Wehrmacht nach dieser Lesart am Ende doch besiegt worden. Ein anderer
Aspekt dieser geradezu paranoiden Angst vor einer Ausländerrevolte erscheint
mir ebenfalls bemerkenswert: Zwischen den Zeilen des offiziell
verordneten Optimismus zeigt sich nur unzureichend maskierter Defaitismus
. Angesichts der Brutalität, mit der „Wehrkraftzersetzung" ansonsten
bestraft wurde, eine erstaunliche Tatsache. Daß diese resignative Stimmung
unter Parteifunktionären und Beamten staatlicher Behörden nicht erkannt
und entsprechend geahndet wurde, mag daran liegen, daß sie auf allen
Ebenen verbreitet war und stets nur in einem Atemzug mit markigen
Durchhalteparolen geäußert wurde. So verraten die Warnungen vor dem
bewaffneten Kampf der Fremdarbeiter in Wirklichkeit die Furcht der Ver-

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