Universitätsbibliothek Freiburg i. Br., H 519,m
Die Ortenau: Zeitschrift des Historischen Vereins für Mittelbaden
85. Jahresband.2005
Seite: 585
(PDF, 123 MB)
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Rezensionen

585

lichkeit, die „historische Wirklichkeit"
kennenzulernen; vielmehr werfen sie vor
allem anderen Licht darauf, in welchen
subjektiven Koordinaten sich frühere
deutsche „Kriegskinder" heute an die Zeit
erinnern (wollen), wie sie Vergangenheit
heute rekonstruieren und welche Formen
der Darstellung sie dafür wählen. Dieser
in jeder Hinsicht entscheidende erkenntnistheoretische
Unterschied wird von den
Herausgebern vollkommen außenvor gelassen
. Das Gegenteil ist der Fall: die Autoren
haben bewusst „darauf verzichtet,
die Erzählungen ihrer Interviewpartner zu
kommentieren oder zu analysieren", wie
im Vorwort vorausgeschickt. Eine reine
Wiedergabe einzelner Interviewpassagen
ist allerdings weitgehend nutzlos, solange
man - wie hier praktiziert - keinerlei Informationen
über den politischen oder sozialen
Hintergrund der Berichterstatter/innen
erhält und deren Aussagen dadurch
nirgendwo inhaltlich verorten kann. Der
historische Erkenntnisgewinn aus solchen
reinen Textstellenansammlungen tendiert
somit fast gegen Null. Hinzu kommen inhaltliche
Fehler wie beispielsweise die
falsche Angabe, in Lahr habe es eine Nationalpolitische
Erziehungsanstalt (NA-
POLA) gegeben (S. 112). Längst bekannt
ist, dass es sich bei der angesprochenen
Einrichtung um eine Gebietsführerschule
der Hitlerjugend handelte. Trotz der beschriebenen
mangelhaften Gesamtkonzeption
dürfte der vorliegende Band durch
seinen Fokus auf die Kriegskindergeneration
einen gewissen Anklang in der Bevölkerung
finden, möglicherweise auch
aufgrund seiner nicht selten exkulpierenden
oder rechtfertigenden Grundtonlage,
mit der die Dokumentation weit hinter die
gängige Publikationspraxis zur NS-Ge-
schichte zurückfällt: die Nazis erscheinen
zumeist als die „anderen", die eigenen Familienmitglieder
waren - bis auf wenige
Ausnahmen - vor allem selbst Opfer oder
zumindest Verführte des Regimes. Hinzu
kommt, dass Täterinnen und Täter anonymisiert
werden - während die Opfer in

selbstverständlicher Weise mit ihren Namen
genannt werden: „Wenn ich an diesen
X. denke - was der den Goldschmidts
alles antat", so heißt es diesbezüglich in
einem von mehreren Beispielen (S. 119).
Die verwirrende Fülle an geschilderten
Ereignissen und Erlebnissen hätte ein erschließendes
Personen-, Sach- oder Ortsregister
erfordert. Dieses fehlt jedoch. So
verliert man sich schnell in der Flut an
manchmal bedeutsamen, manchmal gänzlich
belanglosen Einzelinformationen.
Trotzdem ist davon auszugehen, dass sich
nicht wenige Leser/innen an eigene, möglicherweise
ähnliche Erlebnisse aus dem
behandelten Zeitraum erinnern werden. In
dieser Funktion, als Hilfsmittel und Motor
für weitere Erinnerungsberichte auf der
lokal- oder regionalgeschichtlichen Ebene
, könnte möglicherweise ein Nutzen des
Buches liegen. Für die wissenschaftliche
Praxis ist das Buch aus den genannten
methodischen und inhaltlichen Gründen
jedoch fast vollkommen unbrauchbar. So
wird man die meisten Textpassagen, mit
Ausnahme der Berichte der jüdischen
Zeitzeugen, redlicherweise kaum als
Quellen für nachfolgende Studien heranziehen
können, sondern wird bei Bedarf
Rückgriff auf die originalen Interviews
nehmen müssen. Es wäre deshalb sehr
schade, wenn das Textmaterial aus den
durchgeführten Zeitzeugengesprächen nur
in dieser misslungenen Umsetzung präsentiert
würde. Eine professionelle Auswertung
der generierten Quellen bleibt
deshalb auch im Sinne der vielen gesprächsbereiten
Zeitzeugen sehr zu wünschen
. Bis dahin muss das vorliegende
Buch als ausgesprochenes Negativbeispiel
für den Gebrauch von „oral history" betrachtet
werden, an dessen Konzeption
man sich besser nicht orientieren sollte.

Uwe Schellinger


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