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Über ein furchtbares Kapitel Unmenschlichkeit - Buchenwald ist überall
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diese Kunst bei den hellhäutigen Polynesieren und Mikronesiern und auch
bei den Maoris Neuseelands, deren Häuptlinge und Priester mit Tätowierungen
geschmückt waren. Und bekanntlich gehörten ja „Kaiser-Wilhelm-
Land", „Neu-Mecklenburg" und „Neu-Pommern" zu den deutschen Kolonialbesitzungen
. Was die Gerüchte erklärt, Kaiser Wilhelm II. und Felix
Graf von Luckner, der „Seeteufel" seien ebenfalls nach Art der Maoris tätowiert
gewesen.
In Europa wurde das Tätowieren zuerst bei Seeleuten üblich. Es entstammte
dem Wunsch, sich im Falle des Ertrinkens durch christliche Symbole
möglichst eines christlichen Begräbnisses zu versichern. Später traten
Schiffe, Flaggen, erotische Motive hinzu. Die im Laufe des 19. Jahrhunderts
entstandenen Tätowier-Salons ließen die Sitte auch bei Arbeitern und
Soldaten aufkommen, welche jedoch bald wieder zurückging. Im Laufe
des 20. Jahrhunderts wurden Tätowierungen immer mehr als Symbol sozialer
Randgruppen angesehen, was schließlich dazu führte, sie aus der Sicht
der Nationalsozialisten zum Kriminalitätsindiz werden zu lassen.
Fest steht: Eines Tages Ende 1939 oder Anfang 1940 kam Wagner, wie der
Häftlingsarztschreiber Paul Grünewald sich erinnert, ins Arztzimmer:
„ Grünewald, wir müssen unsere Doktorarbeit machen." Es hatte sich herausgestellt
, dass Wagner von der Universität Jena das Thema „Ein Beitrag
zur Tätowierungsfrage" erhalten hatte.
Nach Unterlagen der Universität soll Wagner das Thema erst im Juni
1940 erhalten haben.15 Bereits am 22. November 1940 legte er die Arbeit
der medizinischen Fakultät vor, die mündliche Doktorprüfung erfolgte am
17. Dezember 1940. Wesentlicher Inhalt der Arbeit war die Untersuchung
von 800 tätowierten Häftlingen nach deren sozialer Herkunft, der Tätowierungsart
, den Inhaftierungsgründen und den zur Tätowierung führenden
Motiven.16
Nachdem die erforderliche Zustimmung des KZ-Kommandanten Koch
(auf ihn wird später noch kurz eingegangen) eingeholt worden war, ging
Erich Wagner „an die Arbeit", d. h. Häftlingsarztschreiber Grünewald entwarf
für ihn einen Fragebogen, befragte für ihn 800 Häftlinge, stellte Zahlenmaterial
und Literaturverzeichnis zusammen und arbeitete die Literatur
gründlich durch.
Dies war kein Ausnahmefall: Auch Lagerarzt Dr. Waldemar Hoven,17
ursprünglich Landarbeiter, geboren 1903 in Freiburg im Breisgau, und im
Nürnberger Ärzteprozess zum Tode verurteilt18, ließ sich seine Doktorarbeit
(Promotion an der Universität Freiburg im Breisgau über die Heilung
von Lungentuberkulose durch Kohlenstaub) von den KZ-Häftlingen Wege-
rer und Sitte schreiben.19 Wer vor der heimtückischen und grausamen Tötung
anderer Menschen nicht zurückschreckt, schreckt noch viel weniger
vor der Kleinigkeit des geistigem Diebstahls zurück.
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