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Heiligenleben und Alltag. Offenburger Stadtgeschichte im Spiegel eines spätmittelalterlichen Beginenlebens 171

schiedsszene an der Schiffslände nahe der Stadt ist ein erster willkommener
Beleg für den Schiffsverkehr auf der Kinzig. Mit der
Kinzig verbindet man üblicherweise nur die Flößerei. Aber es
scheint in deren mäanderndem Unterlauf bis zum Rhein hin
auch eine Art von Personen-Nahverkehr gegeben zu haben. Da ist
noch Forschungsbedarf angesagt.56

Doch zurück zu den beiden Frauen, die mit ihrer ganzen Habe
nach Straßburg gezogen waren: do worentsü froemde und unerkant
allen lüten und nam ir nieman war und enachtet ir nieman. Sie machten
die Erfahrung der Anonymität der Großstadt. Selbst ihre franziskanischen
Brüder in Straßburg ließen sie das spüren. Sie muss-
ten stundenlang an der Klosterpforte warten, als sie den Lesemeister
sprechen wollten. Heilke beschwerte sich heftig: Der
Pförtner aber bemerkte nur trocken: Glaubt ihr, dass ein Lesemeister
so einfach Zeit für euch hat? Als der endlich kam, rügte
er zwar seinen Mitbruder, aber Gertrud rügte auch ihre Freundin
Heilke. Sie wollte lieber wie eine ganz arme Schwester behandelt
werden.

Die neuen Erfahrungen der beiden Frauen deutete die Legen-
denschreiberin um in eine zweite Wende im Leben Gertruds:
Gott wollte sü haben in gantzer lidiger armuot alles zitlichen guo-
tes.57 Sie wollte nichts mehr haben und vom Bettel leben. Sie
wollte sich nicht nur den Armen zuwenden und ihnen Gutes
tun, sondern selbst arm werden, nicht mehr nur Wohltaten von
oben nach unten durchreichen, sondern selbst bedürftig sein.
Der Bericht über Gertruds Jahre in Straßburg ist zum größten
Teil ein Bericht über die Konsequenzen dieser radikalen Entscheidung
.

Gertrud beauftragte die Franziskaner, ihren gesamten Besitz
zu verkaufen. Deren Ordensvater selbst hatte ja seine Gemeinschaft
auf das Prinzip der vollkommenen Armut gegründet. Seine
ursprüngliche Regel bestand nur aus drei Bibelzitaten; das erste
war das bekannte Matthäuszitat: „Willst du vollkommen werden,
so geh hin und verkaufe alles, was du hast und gib den Erlös den
Armen/' Die strikte Durchführung dieses Prinzips stellte den
Orden vor immer größere Schwierigkeiten. Es führte ihn in die
Aporie zwischen Ideal und Wirklichkeit, der er sich durch Kompromisse
, Reformen oder Sezessionen zu entziehen suchte.58
Während die einen streng am Wortlaut der Regel festhalten wollten
, erklärten die andern den Besitz, der das Existenzminimum
sicherte, für erlaubt. In langen Auseinandersetzungen profilierten
sich beide Parteien innerhalb des Ordens immer deutlicher in die
Gruppe der Regelstrengen (oder Spiritualen) und die der Gemäßigten
(oder Konventualen). In Gertrud und Heilke treten sie uns
gewissermaßen personifiziert entgegen: Gertrud die Radikale,
Heilke die Gemäßigte.


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