http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/pforte-1982-2_3/0009
Höhepunkte künstlerischer Selbstverwirklichung
„Bildung heißt: Bilden, ich möchte junge Menschen bilden! Nicht, damit sie kopieren
und auswendig lernen, sondern damit sie in sich die Quelle des Schöpferischen entdecken
." Diese Einsichten hatte Albert Reimann schon um die Jahrhundertwende. Die
Anfänge seiner Kunstschule gehen auf das Jahr 1902 zurück. Traditionelle Trennungen
von reiner und angewandter Kunst sollten mit diesem Versuch überwunden werden.
Die Unterrichtsfächer beschränkten sich deshalb nicht nur auf die bekannten künstlerischen
Techniken, Zeichnen, Malen, Modellieren, sondern auch auf Raum-Dekora-
tions- und Plakatkunst, textiles Gestalten, Weben, Buchbinden, Keramik, Metall und
anderes. An diese moderne Lehranstalt, die den Bauhausgedanke vorwegnahm, wurde
Oesterle 1919 berufen. Er betreute die Studenten im Aktzeichnen und Radieren. In
einem Kondolenzbrief an die Ehefrau schreibt Reimann: „.....daß selten ein Künstler
sowohl in seiner Kunst als auch in seiner Persönlichkeit so allgemein geschätzt und
anerkannt wurde, wie der Verstorbene." 1926 erhielt Oesterles Schüler, Rudolf Arft, den
Rompreis der Schule.
Jetzt ist Oesterle auf dem Höhepunkt seines bisherigen künstlerischen Schaffens. Es
entstehen weitere Radierungen, Lithos und Monotypien. Seine Linientexturen werden
ungehemmter und kühner. Mit den vielfachen Variationen der Themen: Sterbeszenen,
Klagende, Flüchtlinge, Mutter und Kind, spricht er die an, die guten Willens sind, der
Menschlichkeit zu dienen. In der Ölmalerei versucht sich Oesterle mit Erfolg vom Einfluß
seines großen Lehrers zu befreien. Die Entwicklung während der letzten Lebensjahre
kreisen in den Freiluftsujets und den biblischen Entwürfen um den Figuralstil,
der die Schlichtheit und Linienfraktur in besonderer Weise verdeutlicht. Die Farbwerte
beruhigen sich. Das im Freiburger Augustinermuseum befindliche Gemälde „Badende
", welches auf der Großen Berliner Kunstausstellung 1926 zu sehen war, erregte bei
Käthe Kollwitz solch spontanes Gefallen, daß sie ihm auf einer Postkarte schrieb: „...Ihr
Bild gefällt mir famos." Es spricht für Oesterles Selbsteinschätzung und seines kritischen
Kunstverstandes, daß er von seiner Malerei nicht voll befriedigt war. Die beabsichtigte
Wiederaufnahme seiner Studien bei Professor Ulrich Hübner bestätigen dies.
Aus der Distanz dürfen wir dem wohl zustimmen und den Grafiker und Aquarellisten
höher einschätzen. Noch zu Lebzeiten richtete sich die Aufmerksamkeit der Kollegen
und Kritiker auf die herrlichen Aquarelle. In der Wasserfarbenkunst entwickelte Oesterle
ein Impetus und eine neue Qualität die noch Gewichtiges erwarten ließ, wäre der
Künstler nicht schon 1928 gestorben. Wir denken dabei an die lichtexpressiven Entwürfe
zum geplanten Schönlank-Film „Großstadt" (1925) oder an die farbintensiven
Blätter der Tänzerinnen. Zum neuen Ausdrucksmittel gehört auch die bemalte Plastik.
Es bleibt die Frage nach der stilistischen Einordnung. Wilhelm Oesterle war in seiner
Haltung ein Traditionalist. Er stand im Umbruch einer neuen künstlerischen Aussage.
Ausgehend von einer soliden handwerklichen Technik blieb er allen Tendenzen der
Zeit offen, und versuchte in seinem persönlichen Stil das Gesehene und Erfahrene einzubringen
und zu verarbeiten.
Helmut Reiner
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