Universitätsbibliothek Freiburg i. Br., ZG 4885
Die Pforte
4. Jahrgang.1984
Seite: 121
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gottes, vielleicht aus dem Kloster Wonnental. Lindenholz, vollrund, abgelaugt. Höhe 102, Breite 39
cm. »Maria steht aufrecht, sie hat die rechte Hüfte ganz leicht gebogen, das linke Bein etwas vorgesetzt
. Auf der Handfläche des linken angewinkelten Arms sitzt das nackte Kind, dem die Mutter eine
Weintraube entgegenhält. Es neigt den Kopf leicht nach vorn. Das gescheitelt in den Rücken fallende
Haar läßt die runde, hohe Stirn und das breite, volle Gesicht mit dem kleinen Mund und der feinen
Nase zierlich wirken. Die Madonna trägt über dem gefältelten gegürteten Gewand einen am Hals geschlossenen
Mantel, der in einem Zipfel nach vorn und über den linken Arm gezogen ist. Er bildet
vorn tief durchhängende Schüsselfalten und fällt, die Hüfte verbreiternd, über den linken Arm in reicher
Kaskade ab.« Literatur zu diesen Feststellungen: Irmingard Geisler, Oberrheinische Plastik um
1400. Berlin 1957. Forschungen zur Geschichte der Kunst am Oberrhein, Bd. 7.

Doch diese, den Duktus beschreibenden Feststellungen der Kunstwissenschaft können uns nicht
genügen, nicht einmal ein besonderes Interesse wecken. Wir müssen uns zuerst von der Schönheit und
dem Liebreiz der Gesamterscheinung gefangen nehmen lassen, um dann allmählich zur genauen Betrachtung
der Details und ihrer zeugnishaften Aussage überzugehen. Wir werden uns mit diesen Details
näher beschäftigen müssen, denn diese sind die deutlichen bildhauerischen Zeichen, die uns - in
ihrem Zusammenhang gesehen - klar das Leben, den geistigen und religiösen Sinn des Kunstwerkes
erschließen. Der Künstler hat seinem Werk bis ins Detail hinein Deutlichkeit verliehen, dem stummen
Holz Worte und Geist des Evangeliums einverleibt, bestimmte Worte, die er in eine allgemein verständliche
Sprache, das augenfällige Bild übersetzte, damit auch der ungeschulte und deshalb bedürftigere
Mensch, die Liebe und Heilsabsicht Gottes leichter und zugleich besser begreifen lernte.

Die Kenzinger Madonna ist ein liebenswürdiges Mittel, die Gedanken und Sorgen vor allem
werktätiger Menschen anzuziehen - um sie durch die sichtbar bestimmende Gestik und den geistigen
Ausdruck der dargestellten Personen umzustimmen - sie im Glauben zuversichtlicher der Hilfe zu machen
, die Gott denen zuteil werden läßt, die ihn im rechten Geist um etwas bitten, das ihrem Heil
dient. Man kann nur dann zuversichtlich Hilfe vom Herrn erhoffen, wenn die an ihn gerichtete Bitte
mit dem göttlichen Willen und Heilsplan übereinstimmt. Das Kunstwerk religiösen Inhalts muß diesem
Heilswillen entsprechen und dienen, sonst ist es weder ein Kunstdenkmal noch hilfreich, noch
kann es Gnadenbild sein. Dem Sinn und dem Geist nach darf es nicht im Geringsten dem Evangelium
und auch ebenso nicht den Weisungen des Moses im Alten Testament widersprechen, die im 4. Kapitel
des Buches Deuteronomium niedergelegt sind. Das Bild, der Madonna wird nicht angebetet, es
ruft durch seine Anschaulichkeit nur in Erinnerung, bei wem wir auf eine bestimmte Bitte Erhörung
erhoffen können, gemäß den Verheißungen Christi, dem die Macht gegeben ist, über Tod und Verderben
zu siegen, die köstlichen Früchte der Liebe und des Weinstocks vor Verderbnis zu bewahren.
Die Kenzinger Madonna ist ein Gnadenbild - doch weshalb weiß man es nicht, daß es eines ist? Weil
so viel Hilfe und Gnade »von ihm« ausgegangen ist, daß man ihrer nicht mehr notwendigerweise bedurfte
! Man hat sich daran gewöhnt, den Segen der Reben mehr dem eigenen Können, Wissen, Mühen
und den technischen und chemischen Mitteln zuzuschreiben, als jenen arbeitsgebeugten Vorfahren
, die durch ihr demütiges Gebet vor der Muttergottes, die ihrem Kind die Traube zum Segnen und
Siegen (denn die ausgebreiteten Arme mit nach oben weisenden Handflächen sind orantisch) hinhält,
die Kraft und Geduld schöpften, um in Not und Ausgeliefertsein an unberechenbare Mächte, auszuharren
, mit neuem Mut in die Rebberge hinauszugehen, von deren Ertrag ihre ganze Existenz abhing,
das Wohl ihrer Familien, das Glück ihrer Kinder.

Diese betenden und bittenden Arbeiter im Weinberg haben dann auch den Grundstock des
Wohlstandes geschaffen, auf dem die heutigen Winzer aufbauen können. Von diesem Erbe, das sie
wohlhabend gemacht hat, zehren sie noch heute, wissen sie es auch? Wohlstand aber macht leicht vergeßlich
. Wer hat, braucht nicht mehr darüber nachzudenken, von wem er es hat. Allemal von Gott,
nicht aus sich selbst! Wir sind nur Pfleger, Lehensträger, Erben und geben eines Tages weiter, was wir
zu besitzen meinen. Wer aber nicht vergeßlich ist und weiß, woher der Segen kommt, der ist auch
dankbar in einem Sinn, die dem Herrn, unsrem Gott gefällt.

Die Kenzinger Madonna ist ein Gnadenbild, aber es galt nicht mehr als solches, weil der realistische
Menschentyp unserer Tage vergessen hat, woher die Gnade kommt. Aus diesem Grunde braucht
er auch kein Bild, das ihm in Erinnerung ruft, wem er seinen Wohlstand zu verdanken hat. Selbstverständlich
hat er ihn nicht dem Bildnis - sondern, dem der mit dem Bilde ein begreifbares Zeichen seiner
Heilsabsicht gegeben hat, zu danken! Darum ist gerade heute die rechte Zeit, den Sinn und Geist
dieser reizvollen, über ein halbes Jahrtausend alten geschnitzten Madonna wieder bewußt zu machen,
sie wieder im Bewußtsein der Menschen aufleben zu lassen zusammen mit den wunderbaren Verheißungen
Jesu, des Herrn aller Christen - aber auch - das will in die Ohren gehen, Herrn aller
Herren, mögen sie noch so sehr im Gelde schwimmen und den Bedrängten ihre Macht fühlen lassen!

Ein Höherer als sie, ein Unfaßbarer, ein Unbestechlicher, ein Gerechter über allen Selbstgerechten,
ein Mächtiger ohnegleichen, ein Richter, der von sich sagen kann »ich bin die Wahrheit«, aber auch

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