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»das Leben«, steht über ihnen allen. In einer Nacht, wann sie es nicht vermuten, kann er sie abberufen
und dem überlassen, der ihre Seele fordert, wie es im NT bei Lukas 12. Kapitel 15 - 21 zu lesen ist. -
Betrachten wir die Mutter mit ihrem Knaben näher: Gesicht und Haltung der Mutter wirken lebensnah
und entsprechen in ihrer derben Lieblichkeit den Schönheitsvorstellungen des Bürgertums
kleinerer Städte. Sie steht fest mit beiden Füßen auf der Erde, was heißt, daß sie noch die erdverbundene
Mutter ist und noch nicht die Himmelskönigin. Zu ihren Füßen fehlt ihr auch die Sichel eines
Mondes, weshalb sie auch nicht mehr die
apokalyptische Muttergottes ist, von der
die Apokalypse (12,1 ff) spricht, als der
vom Drachen verfolgten Frau, die das
Kind zur Welt bringt, das Michael rettet,
und die »von der Sonne bekleidet, von
Sternen bekrönt auf dem Monde steht«. -
Sie ist eine in jeder Beziehung liebliche,
verständnisvolle Mutter, die ihr Kind keineswegs
ängstlich, vielmehr sehr frei auf
dem linken Arm trägt. Der Jesusknabe
zeigt auch, daß er schon sehr selbständig in
seinem Handeln ist, bewußt und ernst, ja
bereits gebietend die Arme ausbreitet um
die von der Mutter ihm entgegengehaltene
Traube dem Segen des Vaters im Himmel
zu empfehlen. Diese orantische Geste gegenüber
der vorgezeigten Traube zeigt an,
daß hier weniger auf den Opfertod Christi
hingewiesen wird als auf dessen Sieg über
den Tod und alles Verderbliche, das den
Menschen und den Früchten droht.
Der Jesusknabe ist durch auffällig
dichtes Haupthaar aus fragezeichenhaften,
eingerollten großen Locken als bereits gereiftes
Kind, als Knabe charakterisiert.
Auch der Ernst, mit dem er auf die Traube
niederblickt, ohne sie zu begehren, also danach
zu greifen, bestätigt, daß hier der Siegeswillen
über Tod und Verderben und
nichts anderes gemeint ist. Es kommt aber
noch etwas dazu, das eine besondere Ausprägung
an Mutter und Sohn erhalten hat:
es ist die leichte Neigung des Kopfes beim
Knaben zur Traube hin, bei der Mutter
zum Betrachter und die Ohren beider Gestalten
! Sie sind derart auffällig nach vorn
»gestellt« und derart groß und tief in die
Muschel geschnitzt, zudem sind die reichen
Haarwellen hinter diese gekämmt, daß
noch eine andere Bedeutung zum Vorschein
kommt: Es sind Hörende dargestellt!
Die Mutter hört auf die Bitten der Besucher und das Kind sowohl auf den Wunsch der Mutter als auf
den der betenden- und dabei meist eine Bitte vortragenden -Menschen.
Das weise Lächeln auf dem Gesicht der Mutter bezeugt ihr Verständnis für die menschlichen Bitten, aber
ebenso - und auf seine Weise der Knabe dadurch - daß er der Bitte sofort handelnd entspricht, von der
Traube Tod und Verderben abwendet! Damit wird klar: beide Personen sind nicht nur Hörende, sondern
Erhöhrende! Deshalb bezeichne ich sie nicht als Rebenmadonna, oder Trauben-Madonna, sondern
direkt als eine Winzer-Madonna.
Eine solche Madonna wollten sie haben, die ihre Bitten nicht nur hört, sondern allzeit versteht und direkt
erhört! Sie kommt den Winzern auf die liebenswürdigste Weise auch mit der heranreifenden Macht ihres
Sohne entgegen. Damit ist gesichert, daß diese schöne Madonna auf Wunsch und Willen der Kenzinger
Winzer entstanden und vom Bildschnitzer gestaltet worden ist. Die Stifter waren unzweifelhaft die Rebleute
von Kenzingen, die vorwiegend im alten Kenzingen wohnhaft waren. Die Rebbauern gehörten zu
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