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Lieber Leser!
In diesem Jahr befassen wir uns mit Bäumen als geschichtliche und kulturelle Faktoren. Ausgerechnet jetzt, wo alle
Welt vom Waldsterben redet, im internationalen »Jahr des Waldes«, und nachdem die Stadt Kenzingen in diesem
Jahr auf 25 Jahre Waldbegehung zurückblicken kann? Ganz bestimmt haben uns diese Umstände die Augen geöffnet
. So wie uns Geschichtsfreunde grundsätzlich alles Vergangene interessiert, gilt unsere Aufmerksamkeit ebenso
auch dem Heute und - wenn es bedeutsam ist - möchten wir unsere Aufmerksamkeit auch auf die »Zeit danach« richten
. Es ist der Baum als Ganzes gemeint, ein Symbol unseres Lebens.
Was ist schon 1 Jahr bei einem Baum! Mehrere Generationen arbeiten an einem Wald. Der waldfreundlichen Einstellung
des Stadtrates, der Verwaltung und der Forstaufsichtsbehörde ist es zu verdanken, daß in schweren Zeiten
auf den Wald als »Sparkasse« zurückgegriffen werden konnte. Damit ist die Sicht gemeint, was der Wald leistet.
Aber: Wer hat nicht seine Freude an den markanten Baumgestalten und Baumoriginalen: der Altveteran, Baumkuriositäten
, der Höchste, der Dickste, die Lindengruppe am Leopoldsdenkmal bei Riegel (1846 gepflanzt), die Friedenseiche
am Vogtskreuz (1871), die Friedenslinde in Kiechlinsbergen (1871), Feimen, Beiden, Aspen, Rüstern und
Iffen im Rheinauenwald oder die schon im Jahre 1888 gepflanzte Eiche auf dem Hausgrundstück an der Bundesstraße
(Titelbild). Der Anblick dieser Zeugen inmitten eines gepflegten Wirtschaftswaldes, im Naturwald, auf freier Flur
oder im Stadtbereich mag beim Betrachter ein bewunderndes Staunen auslösen. Um so mehr sollten wir uns überlegen
, was eines Tages an ihre Stelle treten soll.
Alte, starke, gesunde und wüchsige Einzelbäume und Baumgruppen sind aber auch Ausdruck für eine standortgemäße
Pflanzung: sich einrichten, wohlfühlen, Naturwidrigkeiten aushalten, eingebunden sein, nach eigenem Gesetz
wachsen. Eine solche Oase von Freiheit und Bindung, von Mitte und Maß, z.B. eines Lindenbaumes, eine solche vorgegebene
Welt kann uns einen echten Heimatbegriff schenken. So gesehen kann das Lied vom Lindenbaum auch
heute noch Wirklichkeit sein, weil Stärke, Eigenart und Schönheit alle Weltgeschichte überlebt. Das Erlebnis alter,
voll ausgewachsener Bäume wollen wir nicht missen, und auch unseren Nachkommen soll es zuteil werden!
Frühzeitig, weit vorausschauend wurden an geeigneten Plätzen im Stadtbereich und in allen Altersstufen geeignete
Bäume ausgewählt, gepflegt und geschützt. Der gesamte Baumbestand im Stadtgebiet beläuft sich inzwischen auf
über 1600 Bäume, wovon 625- Bäume als Altbestand anzusprechen sind, die restlichen Bäume wurden in den letzten
25 Jahren gepflanzt.
Der in den Feldmarken und ländlichen Siedlungen typische Streuobstbau soll künftig als landschaftsprägender Faktor
wieder beachtet und gefördert werden. Im Raum Kenzingen wurden neuerdings zwei wertvolle alte Apfel-
Lokalsorten ermittelt, die in der Obstbau-Literatur bisher nirgends erwähnt worden sind. Im Rahmen dieser Forschungsarbeiten
wurde auch ein in Vergessenheit geratener Baum mit Geschichte, die Maulbeeren, wieder entdeckt.
Der Baum steht - aus gutem Grund also - im Mittelpunkt dieses Heftes unserer Zeitschrift Die Pforte.Dazu gehört es
auch, die überaus engen, weitverzweigten, reich verästelten Beziehungen des Menschen zum Baum zu verdeutlichen:
Der Baum in der Mundart von Kenzingen und engeren Umgebung. In einer Sprachaufnahme wurden dazu im Sommer
1985 mundartliche Benennungen, Sprichwörter und Redensarten (»Th' Huszwetschge wachse am liebschte i der
Nähi vu die Kuhi, wu si de Kaffee schmecke«) gesammelt, um die originale Schreibweise wiederzugeben. Die Sprache
hat sich im Zusammenhang mit dem Wandel der Strukturen vor allem in den Kleinstädten so geändert, daß es geboten
erschien, sich ihrer zu erinnern und sie aus den Kenntnissen Alteingesessener darzustellen. Die Bauernmundart
widersteht diesen Strömungen noch am ehesten. Lange Zeit, vorwiegend als Lieferant materieller Güter hat der
Baum auch stets tiefe Gefühle und Empfindungen hervorgerufen. Zahlreiche Erzählungen, Gedichte und Bilder sind
entstanden. In einer kleinen Auswahl davon soll versucht werden, die Wirkungen eines Baumes auf den Menschen
auszudrücken: klassisch und volkstümlich. Eine religiöse Dimension wird uns erschlossen »wenn der Baum spricht«.
Damit soll aber auch gleichzeitig eine ganzheitliche Betrachtung erfüllt sein.
Eine ungewöhnliche »Keimkraft« steckt in diesem Thema! Gleichmäßig wuchs diese Ausgabe. Aus Ring und Ring
wurde eine immer weitere Umfassung, gleich einer Baumscheibe. In der nächsten Ausgabe wenden wir uns deshalb
einem zweiten Themenkomplex zu: Der Baum in seiner Verwendung. Nur so war es möglich, drei weitere wertvolle
Beiträge in diesem Band aufzunehmen. Der Beitrag »Das mittelalterliche Kenzingen: Sein Weg vom Dorf zur Stadt«
wird als eine Art Dauerbrenner fortgesetzt. Eine kunsthistorische Betrachtung im Fach Bildende Kunst sollte zu einem
historischen Denken helfen. Die Schülerarbeiten werden auch beim laufenden Landeswettbewerb des Ministeriums
für Kultus und Sport, vorgestellt. Die Wasser Ordnung im Breyßgaw gilt als Ergänzung zur letzten Ausgabe Nr.
7/8-1984.
Abschließend danken wir allen Mitarbeitern für ihre ungewöhnliche Unterstützung und allen Freunden unserer Ar-
be"' Klaus Weber
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