Universitätsbibliothek Freiburg i. Br., ZG 4885
Die Pforte
6. Jahrgang.1986
Seite: 86
(PDF, 21 MB)
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Humanisierung der Gesellschaft

Aus Überzeugung Sozialist, keineswegs Vulgärmarxist, wandelt sich Oesterles sozialpolitisches
Engagement in ein allgemein menschliches. Der Gedanke der mitmenschlichen Zuwendung
dominiert in den figürlichen Darstellungen. Es ist die Sehnsucht nach Gemeinschaft
, nach Sozialität und Solidarität im Lebensalltag. Oesterle war vielleicht mehr Demokrat
und Humanist, hielt mehr von Evolution als von Revolution. Dies verbindet ihn innerlich
sehr mit Käthe Kollwitz und Hans Baluschek, denen er immer freundschaftlich verbunden
war. Zudem der idealistische Revolutionsbegriff der Expressionisten von dem materialistischen
der Marxisten sich grundlegend unterschied. Transformierend für uns Menschen
der achtziger Jahre heißt dies: »Das Mitleid mit dem armen leidenden oder sterbenden
Zeitgenossen und seinem Dilemma wird von den Schaudern vor der tragischen Situation
der Menschen im Atomzeitalter abgelöst«. (J.P. Hobin)

Umsomehr machen uns auch heute seine Bildaussagen betroffen. Die Aktualität wird
zwingend, Bezugspunkte sind relevant. In den Aufzeichnungen seiner Lebensgefährtin
Marie Oesterle lesen wir: ... man konnte auch erfahren, wie sehr eindringlich sich Wilhelm
mit den letzten Dingen beschäftigt. Dieses Letzte war immer da, eigentlich als etwas Selbstverständliches
«.

Ikonographisch betrachtet halten wir Oesterles biblische Themen (Bergpredigt-Hiob-
Hagar-Jeremias-Pieta) vornehmlich für Modellgestalten zur Sichtbarmachung archetypischer
Grundsituationen des Menschen. Sein Religionsverständnis gründet er auf einer moralischen
Selbstverpflichtung, einer Humanisierung von Welt und Gesellschaft. Anregungen
von Edvard Münch und Ferdinand Hodler sind in sein Schaffen eingeflossen. Zahlreiche
ländliche und figürliche Motive weisen auf die Auseinandersetzung mit dem graphischen
Werk des Franzosen J.F. Millet. Gesättigte Herbheit und lyrisches Empfinden teilt
sich in seinen Landschaftsgravüren mit, die in ihrer Begrenzung auf das Wesentliche einen
tiefen Erfahrungshintergrund offenbaren. Was ihn sehr nachhaltig inspirierte, war die ihm
ans Herz gewachsene Berliner Wahlheimat, die Flußlandschaft an der Spree und Havel.
Sie wurde ihm zum Abbild seines Seelenzustandes, überschattet von jener Schwermut, der
Romano Guardini ein besonders heftiges Ungenügen am Endlichen zuschreibt. Flucht in
die Idylle war es nicht. Daß das Bild der Großstadt in Oesterles Darstellungen weitgehend
ausgespart bleibt führt wohl auf seine Stadtskepsis zurück, die er mit vielen Malern seiner
Zeit teilt. Man empfindet die Stadt als Schauplatz der Auflösung elemantarer sozialer Ordnungen
.

Kunst als Aufklärung und Seelsorge

Aus Oesterles Bildern leuchtet auch der Trost der Schönheit, die uns eben glücklich macht.
Daß das Bedürfnis danach unausrottbar und unersetzbar ist, ist zwar keine neue Erkenntnis
, wenn sie auch in Zeiten des Kunstzweifels, der »Kunst am Nullpunkt« (Michael Langer
), heute erneut postuliert wird. Und die Freude? Oesterle ist gewiß kein »Freudenver-
derber«. Das Gegenteil ist sichtbar. Wie hätten sonst jene farb-expressiven Aquarelle entstehen
können, die streng kraftvollen Akte und ekstatischen Tänzerinnen, in ihrem faszinierenden
Bewegungspathos. Fast empfindet man diese Eruption als das Aufbäumen letzter
Schaffensenergien unter dem unausweichlich nahenden Todesschatten. Und dann die
Vielzahl von Gemälden, eine sinnenhafte Bilderwelt verhaltener Expressivität und subtiler
Farbwerte, in reicher und differenzierter Abstufung.

Eine starke Wirkung übte Honore Daumiers dekorative Flächenbehandlung auf Oesterles
Bildgestaltung aus. Auffallend sind auch die nicht alltäglichen thematischen Analogien
und der gemeinsame nervöse zeichnerische Duktus. Seine farbigen Papierarbeiten im Spätwerk
reichen bis an die Grenzen der Abstraktion. Gewiß, Oesterle war zutiefst Traditionalist
, er wirkte nicht stilbildend. Aber was heißt das schon. Sein Lehrer Lovis Corinth hielt

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