http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/pforte-1991-10-11/0092
Sieben Jahre später wurden diese Stehwagen jedoch wieder abgeschafft. Ausschlaggebend
waren einzig Berechnungen, nach denen die Betriebseinnahmen deutlich gesteigert werden
können, wenn nur noch drei Wagenklassen angeboten werden. Baden war in Deutschland
wohl der erste Staat, in dem die 4. Wagenklasse wieder abgeschafft wurde, wenngleich
auch die Gründe, keinesfalls von Edelmut gezeichnet sind. Durch die dann höheren Tarife
der 3. Klasse war vielen Landesbewohnern die Benutzung der Bahn unmöglich gemacht.
Die Hierarchie in der Reisegesellschaft kam jedoch auch noch in anderen Bereichen deutlich
zum Ausdruck. In den kleinen Stationen wie in Kenzingen gab es nur eine Fahrkartenausgabe
und nur einen Wartesaal. Bei größeren Stationen war es jedoch üblich für die
Reisenden der verschiedenen Klassen nicht nur getrennte Wartesäle, sondern auch separate
Fahrkartenschalter vorzuhalten. In bestimmten Stationen wie z.B. Freiburg oder Baden-
Baden gab es daneben noch Räume ausschließlich für höchste und allerhöchste Herrschaften
.
An die getrennten Wartesäle werden sich wohl noch viele Angehörige der älteren Generationen
erinnern, sie wurden vielerorts noch weit bis in das 20. Jahrhundert hinein beibehalten
, dies gilt auch für die getrennten Bahnhofsgaststätten. Daneben gab es auf den
größeren Stationen auch Warteräume, die ausschließlich für Damen reserviert waren. Für
»Damen« heißt es da ausdrücklich nicht für »Frauen«, Bitteschön!
Daß auch das Verhalten des Bahnpersonals den verschiedenen Klassen gegenüber ganz
unterschiedlich war, versteht sich von selbst. Als »Fahrgäste« durften sich eigentlich nur
die Reisenden der 1. Klasse, später dann auch noch die der 2. Klasse fühlen. Die Reisenden
der 3. und 4. Klasse wurden meist nur in herablassender Arroganz auf der Bahn geduldet
. Allzu oft wurde ihnen das Gefühl gegeben, es sei geradezu eine Gnade, daß der
Herr Eisenbahnbeamte von Gottes Gnaden ihnen überhaupt eine Fahrkarte verkauft und
der Herr Conducteur die Mitfahrt in »seinem Zug« überhaupt gestattet.
Diese Reisenden wurden noch lange in ihren Wagen eingeschlossen und durften die Wagen
, auch bei längeren Zwischenhalten, nicht verlassen. Sie wurden gezwungen oft für Stunden
in Regen, Kälte, Hitze, Schnee oder Gewitter auf diesen Karren eng sitzend oder stehend
ohne Toilette, Heizung oder Sonnenschutz, auszuhalten und dabei das rüde Auftreten der
fahrenden Personale, daß sich anfangs fast vollständig aus entlassenen Unteroffizieren zusammensetzte
, über sich ergehen zu lassen. Zu dieser Zeit war eben jede Kuh im Stall und
jede Ziege mehr wert als ein Knecht, eine Magd, ein fahrender Handwerksbursche oder
ein Arbeiter, genannt Tagelöhner. Das ist keine Mustereisenbahn, sondern eine Bahn in
deren Reglementierungen gesellschaftliche Selbstverständlichkeiten zum Ausdruck kommen
. Spricht hier jemand von der »guten, alten Zeit«?
Die Bahn ein Politikum
So fährt sie denn, die Bahn. Bald schon gibt es erste technische Verbesserungen. Der Bahnbau
Richtung schweizer Grenze wird fortgesetzt. Die Fahrpläne werden dichter und schließlich
fahren die ersten Schnellzüge, zunächst nur bis Schliengen, was lange Endpunkt bleibt,
da der Bahnbau im Bereich des Isteiner Klotzes mit seinen schwierigen Tunnels nur langsam
weiterkommt.
1848 wurden die Hochbauten der Zwischenstation Kenzingen fertiggestellt, außerdem wurde
das zweite Gleis in unserem Bereich durchgehend verlegt, da gab es eine erste Stockung
mit der Revolution.
Plötzlich ist die Bahn nicht mehr nur völkerverbindendes Medium, das Brüder zu Brüdern
bringt. Der »allgeliebte Fürst Leopold« flieht außer Landes. Er flieht in einer Kutsche,
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