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Abschluß fanden. Fahrgestelle solcher Art wurden ansonsten nur für führende Luxuszüge
wie z. B. den Orient-Express, oder für die Privatwagen der Herrscherhäuser wie z. B. derer
von Fürstenberg verwendet.
Dies alles war der Bevölkerung bewußt und man war nicht wenig stolz auf seine »opulente«
Eisenbahn, selbst wenn man sich eine Reise darin nicht immer leisten konnte.
Es gibt Statistiken darüber, wie die Bahn benutzt wurde. In den Verhandlungen des außerordentlichen
Landtages von 1838 führte der Rastatter Abgeordnete Sander, als Sprecher
der Opposition, unter anderem aus (Q22):
»... glauben Sie, daß sie (Die Eisenbahn) dem Landmanne auch tatsächlich zugute kommt?... Die paar
Butterweiber, die auf den Markt, und die paar Prozeßkrämer, die zum Hofgericht fahren, machen
nicht viel aus...»
Nur teilweise sollte ihm die Statistik knapp 60 Jahre später Recht geben. So betrug im
Jahre 1905 in Baden die durchschnittliche Länge sämtlicher Eisenbahnreisen 20,96 km.
Bei Schneider können wir weiterhin lesen (Q23):
»Die Benutzung der Eisenbahn durch die landwirtschafttreibende Bevölkerung erstreckt sich im allgemeinen
nur auf kurze Entfernungen, eine Erscheinung, die auch auf die Reisen der übrigen Bevölkerungsklassen
zutrifft. Dabei kommen hauptsächlich Fahrten nach und von den, dem jeweiligen
Wohnorte der bäuerlichen Bevölkerung benachbarten, an einer Bahnstation oder in deren Nähe gelegenen
Plätzen in Betracht, mit deren Einwohnern sie Verwandtschafts- bzw. Familienbeziehungen verbinden
. Hierher gehören auch noch jene Orte mit günstigen Ein- und Verkaufsgelegenheiten, unter
denen solche am Sitze staatlicher Behörde den Vorzug genießen, weil hier Handels- und Amtsgeschäfte
zu gleicher Zeit abgemacht weden können. Größere Reisen finden verhältnismäßig selten und nur
vereinzelt statt. Sie erstrecken sich im allgemeinen entweder auf Vergnügungsfahrten, wie den Besuch
von Ausstellungen und entfernt wohnenden Verwandten, oder auf Reisen zu Befriedigung religiöser
Bedürfnisse, wie Wallfahrten, Pilgerfahrten und dergl. mehr.«
Das Archivmaterial, aus dem sich für jene Jahre die Benutzerfrequenz für die einzelnen
Stationen ablesen lassen würde, ist leider vernichtet. Erhalten sind jedoch mehrere Warenstatistiken
. Tafel 4 zeigt die Warenstatistik der Station Kenzingen aus dem Jahre 1907; einer
Zeit also, in der die alten »Ländereisenbahnen« in gewisser Weise den Höhepunkt ihrer
Entwicklung erreicht hatten.
Diese Zahlen sprechen wohl eindeutig für sich. Eine kleine Station an einem Ort mit damals
ca. 2800 Einwohnern. Es ist die Glanzzeit der alten Ländereisenbahnen. Sie erbringen
fast 80 °7o aller Transportleistungen im ganzen Land, Personen- und Güterverkehr
zusammengenommen. In fast allen Bereichen haben sie keine Konkurrenz.
Zu diesem Zeitpunkt ist die Bahn in Kenzingen bereits seit etwa 60 Jahren in Betrieb. Noch
warten viele Städte oder Dörfer auf einen Eisenbahnanschluß, für sie ist der Zug abgefahren
, sie sind praktisch aus dem Rennen und können die wirtschaftlichen Nachteile nicht
mehr ausgleichen. Dies gilt für alle Industriestaaten. Die Bahnen indes brauchen sich nicht
unbedingt orientieren an den Ansprüchen der Kundschaft, da diese ohnehin nicht auf andere
Verkehrsträger umsteigen kann. Dabei ist die Kundschaft im allgemeinen mit dem
Angebot aber auch sehr zufrieden, denn noch steht den Eisenbahnverwaltungen für Modernisierung
und Rationalisierung genügend Geld zur Verfügung. So beträgt der Betriebsgewinn
der deutschen Bahnen im Jahr 1913 über eine Milliarde Goldmark. So sind die
Bahnen auch in der Lage, zahlreiche Ermäßigungen zu gewähren, nur ein Teil der Fahrgäste
fährt zum vollen Tarif. Trotzdem ist die Bahn für viele zu teuer und viele sind bemüht,
kurze Strecken nach Möglichkeit zu Fuß zurückzulegen.
Im Jahre 1907 hielten 16 Personen- und 4 gemischte Züge in der Station Kenzingen. 16
Schnellzüge donnerten durch unseren Bahnhof und 34 Güterzüge rumpelten mit ihren 30
km/h Höchstgeschwindigkeit über die Gleise. Noch liegt der Bahnhof praktisch im freien
Feld. Mit seinem Uhrtürmchen ist er ein markantes Gebäude am Ende der Eisenbahnstraße.
Die nächstliegenden Gebäude sind das Postamt, die Bahnhofswirtschaft »Löwen«, nach
100
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