Universitätsbibliothek Freiburg i. Br., ZG 4885
Die Pforte
10. und 11. Jahrgang.1990/1991
Seite: 102
(PDF, 67 MB)
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http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/pforte-1991-10-11/0104
Abschied am Bahnhof

Kommen wir zu einem anderen Aspekt der Eisenbahn.

Trotz der heutigen Bedeutung des Automobils und des Flugzeugs im Reise- und im Fernverkehr
: es gibt keinen Ort, der sich im Bewußtsein der Menschen als Stätte des Abschiedes
so sehr eingeprägt hat wie der Bahnhof. Der Bahnhof als Stätte des endgültigen
Abschiedes. Man denke dabei z. B. an die großen Auswanderungsströme, wie sie zunächst
nach der niedergeschlagenen Revolution 1848/49 einsetzten. Es gab ja nicht nur politische
Gründe für die Auswanderung. Für die große Masse der Emigranten gab die wirtschaftliche
Not den Ausschlag. Besonders in den Jahren 1850 bis 1860 und um 1890. Pauperismus
, die Verelendung ganzer Landstriche, das war damals in unserem Lande ein großes
Problem. Das Land konnte seine angewachsene Bevölkerung nicht mehr ernähren. So setzte,
hauptsächlich aus den kargen Gegenden von Schwarzwald und Odenwald, in unserem Bereich
jedoch auch aus verschiedenen Kaiserstuhl- oder Rheingemeinden wie z. B. Forchheim
, eine Auswanderungswelle ein, die sogar lange Zeit staatlich gefördert wurde. Das
Abschieben der armen Bevölkerung war damals in Deutschland recht weit verbreitet und
wurde verstanden als Teil einer Sozialpolitik (Q25).

Die endgültige Abschiebung von der Verwandtschaft und von der Heimat fand dann am
Bahnhof statt. Bis dorthin kostete die Begleitung nur Zeit, kein Geld. Es gibt sehr genaue
Statistiken über die Auswanderung in Baden. Die unermeßliche Tragik, die dahinter oder
erst damit begann, kommt indes in nüchternen Zahlen nicht zum Ausdruck.
Dieser Blick ist uns allen bekannt. Der Blick hinaus aus dem Fenster des eben angefahrenen
Zuges, zurück auf jene, die uns so lieb sind, und die mit Tüchern winkend am Bahnsteig
zurückbleiben. Dabei werden sie immer kleiner, sind schließlich nicht mehr zu erkennen.
Stellen wir uns vor, wir sitzen im Zug und wissen ganz genau: diese uns so vertraute Landschaft
, und diese Stadt mit all den Menschen, die wir kennen und die uns lieb sind, werden
wir alle nie mehr wiedersehen - auch das ist ein Stück Geschichte eines Bahnhofs und
seiner Stadt. Diese Vorstellung vermittelt uns aber auch: hinter nüchternen Zahlen stehen
Menschen, stehen Schicksale, es könnte auch unser eigenes sein.

In viel, viel schlimmerem Ausmaß noch: die Kriege!

»Der große vaterländische Krieg«, der später als 1. Weltkrieg bezeichnet wurde. Gehen
wir durch die Stadt Kenzingen, es gibt Denkmale, darauf stehen in Sandstein oder in Granit
gemeißelt die Namen derer, für die am Bahnhof Kenzingen die unausweichliche Fahrt
in Tod und Verderbnis begann.

Wie glorreich waren die Verabschiedungen! Wie stolz war man auf seine Söhne als man
sie buchstäblich mit Pauken und Trompeten zur Hölle schickte! Wie verschämt waren jene
, die (noch nicht) gehen »durften«. Da spielten Musikkapellen Marschmusik auf den
Bahnstationen, die Männergesangvereine brachten den »Helden der Stadt« ein vaterländisches
Ständchen zum »Aufbruch nach Paris«, die Feuerwehren waren im »großen Wichs«
angetreten, Honoratioren hielten feierliche Ansprachen, Fahnen mit gelbrotgelb oder
schwarzweißrot hingen herab oder wehten stolz im Wind, Bahnhöfe und Züge waren festlich
mit Tannenreisig geschmückt und Mütter und Bräute suchten Tränen zu unterdrücken
— Auf Wiedersehen auf dem Boulevard!

Als dann die ersten Züge mit Verwundeten zurückkamen, die auf Pferdefuhrwerken elendiglich
ins Kenzinger Spital gekarrt wurden, spielten keine Musikkapellen mehr. Anstelle
der Honoratioren traten nun die Helfer und Helferinnen des Badischen Roten Kreuzes,
dessen Kenzinger Ortsverein wenige Jahre zuvor gegründet worden war. Das Erscheinungsbild
der Bahnhöfe, das Erscheinungsbild der Eisenbahn hatte sich gewandelt.

Sämtliche Bahnanlagen wurden zum militärischen Sperrgebiet erklärt. Truppen der Landwehr
patroullierten auf Bahnhöfen und auf der freien Strecke um Sabotageakte zu verhinderen
. Angehörige der Feldgendarmerie fuhren in den Zügen mit und suchten nach

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