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Elektrifizierung und Komfort
Das Jahr 1956 bringt für Kenzingen eine Innovation, von der auch heute noch viele Bahn-
Anliegergemeinden träumen: die Strecke wird elektrifiziert. Die Dampflokomotiven verschwinden
von unserer Strecke. Welch ein Fortschritt! Man kann im Sommer im Zug die
Fenster geöffnet haben und bekommt dabei nicht fortlaufend Rußpartikel in die Augen
oder auf den weißen Hemdenkragen geweht. Die Geruchsbelästigung verschwindet, die
Züge fahren viel schneller, beschleunigen schneller, was sich besonders im Nahverkehr mit
seinen vielen Halten deutlich bemerkbar macht. Entlang der Strecke kann endlich auch
weiße Wäsche zum Trocknen aufgehängt werden. Die Fahrgäste brauchen keine Angst mehr
zu haben, bei der Einfahrt eines Zuges in den Bahnhof von der Dampflokomotive mit
Schmieröl vollgespritzt zu werden. Wohl keiner der Pendler, die täglich mit der Bahn zur
Arbeit fahren, sieht zu diesem Zeitpunkt den Dampfbetrieb als etwas Romantisches an.
Alle sind sie froh, daß diese rußenden, stinkenden Dreckschleudern abgeschafft werden.
Aber auch heute noch ist die elektrische Traktion Kennzeichen einer modernen Eisenbahn.
Bereits ein Jahr später, zum Fahrplan 1957, erscheint dann der elegante Triebkopfzug VT
11.5 der Hamburg mit Zürich in 10 Stunden und 34 Minuten als TEE »Helvetica« verband
. Diese Züge boten den Fahrgästen wieder ein Maximum an Bequemlichkeit: Klimaanlage
, bequeme Sitze, hohe Laufgüte, optimale Geräuschdämmung, Zugsekretariat,
Zugtelefon, Bewirtschaftung, Bar. Die Züge werden für Jahre zum Inbegriff des komfortablen
Reisens. Sie sind von einem Dieselmotor angetrieben und haben zudem nur eine
Höchstgeschwindigkeit von 140 km/h. Die Zeichen stehen bis Hamburg auf Elektrifizierung
, die Geschwindigkeit ist auf Dauer nicht marktgerecht, der Trend geht wieder zu
Lokomotivbespannten Zügen und zum InterCity.
Ende der 50er Jahre, wie sieht es da bei unserer Bahn aus? Es läßt sich sagen: es ist wieder
alles da, was zu einem richtigen Bahnhof gehört. Es geschieht sehr viel mehr, als daß Personenzüge
anhalten und wieder abfahren.
Das Empfangsgebäude hat noch sein Uhrtürmchen aus dem Jahr 1848. Es gibt noch einen
richtigen Wartesaal mit Holzfußboden und getäfelten Wänden. Es rieht darin ganz
typisch noch Bodenwachs und nach Staub, man hat das Gefühl, daß eine ganz andere Zeitrechnung
gilt. Aber er wird im Winter beheizt und die Reisenden wissen also, oft im Unterschied
zu heute, wo sie ihre Wartezeit verbringen können. Draußen ist noch das
Toilettenhäuschen. Da sind Toiletten nicht nur für die Bahnkundschaft, sondern auch für
die Öffentlichkeit. Der Bahnschalter ist von früh morgens bis in die Abendstunden besetzt
und dies auch am Wochenende.
Die Güterhalle ist noch in Betrieb, noch kann man hier Stückgut aufgeben oder abholen.
Man kann es sich aber auch bringen oder abholen lassen, daß besorgt in Kenzingen noch
lange Jahre ein Landwirt mit seinem Pferdefuhrwerk. Für die Badenia Möbelfabrik wird
eigens eine Auffahrt gebaut, so daß man direkt vom Werkstor zur Rampe der Güterhalle
fahren und dort verladen kann. Noch werden Tag für Tag etliche Güterwagen zum Be-
und Entladen bereitgestellt. Da ist noch die Gleiswaage, das Lademaß, ein Ladekran. Hier
wird auch noch rangiert. Zwei Stellwerke sind noch da und die Bahnmeisterei hat auch
ein modernes Schienenfahrzeug sowie ihre Lagerflächen und Räumlichkeiten. Noch ist viel
Leben am Bahnhof.
Die Berufspendler fahren noch mit der Bahn zur Arbeit. Dabei kommen sie zum Teil schon
morgens mit dem Fahrrad von Weisweil oder Bleichheim und fahren damit abends wieder
zurück, Sommers wie Winters. Noch bringen die Bauern von Bleichheim ihre Milch im
Pferde- anfangs noch im Ochsenfuhrwerk zur Bahnverladung an den Kenzinger Bahnhof.
Noch ist der Bahnhof das Haupteingangstor zur Stadt, sowohl für den Personen- wie auch
für den Güterverkehr.
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