Universitätsbibliothek Freiburg i. Br., ZG 4885
Die Pforte
24. und 25. Jahrgang.2004/2005
Seite: 17
(PDF, 30 MB)
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man kann es nicht anders sagen.2* Durch diese Trennung scheint der junge Mann erstmals
wirklich zu empfinden, wie sehr er seine Eltern, insbesondere seine Mutter liebt: Wie gerne
wollte ich bei Ihnen sein, mich in Ihre Arme werfen und Ihnen ein für allemal das sagen, wozu
der Alltag kaum Gelegenheit gibt, nämlich daß ich Sie mehr als alles auf der Welt liebe, daß
Sie ganz ohne jeden Zweifel die große Liebe meines Lebens sein werden, und daß Papa und Sie
mir wichtiger sind als alles andere. 24 Also auch die Bindung an den Vater empfindet er als sehr
eng: Ich merke, daß ich alle Briefe meiner Mutter, aber wenige meines Vaters aufbewahrt
haben muß, wo er mich doch, falls dies möglich ist, vielleicht mehr liebte. Wir waren verschieden
, er verstand mich nicht. Er liebte mich blind oder blindlings, wie man will. Ich war
sein einziges Kind, was für meine Mutter nicht galt (14). Er würde es mir eines Tages wieder
sagen: Ich war die Freude seines Lebens, seine einzige Sorge [...] 25

Um diesen Eltern keine Sorgen oder Ängste zu bereiten, schönt Jose seine Berichte, indem er
die guten Seiten betont und das weniger Erfreuliche verschweigt oder mildert. Kaum eine
Nachricht, in der Jose nicht auf seine gute Stimmung hinwiese. Die Eltern sind dafür dankbar:
Du kannst Dir denken, wie glücklich wir waren zu erfahren, daß alles gut ging und daß Du
nicht unglücklich bist. [...] Wir haben in Nollet inmitten so vieler Erinnerungen einen sehr
traurigen Tag verbracht. [...] Zu zweit haben wir da, wo wir fünf Kinder hatten, niedergeschlagen
zu Mittag gegessen, und beim Dessert hat Dein Vater heiße Tränen geweint. Zum Glück
haben wir bei der Rückkehr Deinen Brief vorgefunden, und er war Balsam für unser Herz. [■■■]
Jeden Morgen (wie ich es mir am ersten Tag vorgenommen habe) gehe ich um halb acht zur
Messe, um dort für Dich zu beten und zu kommunizieren.26

Trotz und gerade wegen dieses innigen Verhältnisses kommt es zu einem Missklang: Der Brief
vom 4. September 1943 beginnt mit den Worten: Meine liebe Mama, heute schreibe ich Ihnen,
trauriger als ich es jemals war: Sie schreiben mir nicht. Alle meine Kameraden erhalten jeden
Tag Briefe und Päckchen. Ich erhalte nie etwas. Niemand schreibt mir.21 Welch überraschender,
innerer Gegensatz zeigt sich hier zwischen dem tapferen Studenten, der sorgsam darauf
bedacht ist, alles Negative seinen Eltern zu verschweigen, um ihnen ja keinen Anlaß zum
Kummer zu geben, dem mutigen jungen Mann, der sich alle Mühe gibt, im Feindesland die
Moral hoch zu halten, und dem kleinmütigen Kind, das hier kindisch quengelnd und kindlich
argumentierend sein tägliches Päckchen und Briefchen verlangt. Widersprüchlichkeit, das
Aufeinandertreffen von Gegensätzen als einem Grundelement von Cabanis' Leben und Literatur
verrät sich in diesem Brief, den er später tief bereute. Er fährt fort: Warum schreiben Sie
mir nicht? Sie verweigern mir das einzige Vergnügen, das mir geblieben ist. Ich verstehe Sie
nicht. Dies ist der elfte Brief, den ich Ihnen schreibe. Seit meiner Abreise sind keine vier Tage
vergangen, ohne daß ich Ihnen nicht geschrieben hätte. Und was tun Sie? Ich weiß, wie lästig
Ihnen das Schreiben ist. Aber es betrübt mich sehr zu sehen, daß Sie selbst in diesem Fall Ihre
Abneigung nicht überwinden können.2* Und ein weiteres „Problem" trübt für einige Zeit die
sonst um Optimismus bemühte Berichterstattung des jungen Mannes: es fehlt ihm an Geld. Er
hat sich bei der Arbeit in den linken Zeigefinger gesägt und kann einige Tage nicht arbeiten.
Zwar begrüßt er dies als angenehme Unterbrechung und willkommene Gelegenheit, nach
Herzenslust zu lesen. Aber wegen meines Fingers kann ich noch immer nicht arbeiten. Daher
werde ich nicht bezahlt. Da ich meine Reserve aus Toulouse nicht angreifen möchte (ich habe
noch die Hälfte), gehe ich nicht ins Gasthaus. Jeden Abend begnüge ich mich mit einem Teller

24 Cabanis, Lettres, S. 45.

25 Ebd., S. 124 f.

26 Ebd., S. 33 f.

27 Ebd., S. 72 f.

28 Ebd.

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