Universitätsbibliothek Freiburg i. Br., ZG 4885
Die Pforte
24. und 25. Jahrgang.2004/2005
Seite: 20
(PDF, 30 MB)
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Im Gegensatz zu seinem Vater, der Laval und Petain für ehrliche Vermittler hielt, die versuchten
, das Beste aus der ungleichen Beziehung zwischen Frankreich und Deutschland zu
machen, war Jose überzeugt, daß die Vichy-Regierung (vgl. 2) ein Haufen falscher und feiger,
auf den eigenen Vorteil bedachter Verräter war. Deshalb hätte ich es so gerne gesehen, wenn
mein Vater seine harmlosen Tätigkeiten im Rathaus von Balma aufgegeben hätte.™

Ora et labora

Mit dem religiösen Leben ihres Sohnes konnte Frau Cabanis äußerst zufrieden sein: In Könd-
ringen besuchte er von Juli bis Oktober jeden Sonntag die Messe, las die Bibel und lebte wie
ein Engel31. Zeitzeugen erinnern sich, dass die Studenten aus Frankreich - zumindest
anfänglich - eifrige Kirchgänger waren, die besonders auch dadurch Aufmerksamkeit erregten,
dass sie mit gekreuzten Armen das Abendmahl empfingen und nicht mit gefalteten Händen,
wie es am Ort üblich war. Jose hatte Halt im Glauben gefunden: Das Gefühl, alles verloren zu
haben, was er in Frankreich besessen hatte, weckte in ihm den leidenschaftlichen Wunsch nach
geistiger Einheit mit seinen gläubigen Eltern, und nach wenigen Wochen, so berichtet er,
bescherte ihm dieses Verlangen einen längst vergessenen Frieden. Er fühlte sich frei, befreit,
trotz der Arbeit in der Fabrik, in Harmonie mit dem wahren Leben, für das er sich geschaffen
fühlte und von dem ihn auch die widrigen Lebensumstände nicht abhalten konnten. Dieser Zustand
schloss Trauer und Angst nicht aus, aber er verschaffte auch Augenblicke strahlenden
Glücks. Hier auf dem so sauberen und blumenübersäten Land gelangte ich also zu einer
inneren Ausgeglichenheit und Heiterkeit, die, zugegebenermaßen, nur wenige Monate später
von den schmalen Wegen des Schwarzwaldes, seinen einsamen Tälern, seinen Wiesenflecken
am Waldrand zugunsten ganz anderer Gefühle verdrängt wurde, die ich nicht weniger lebhaft
nennen kann. Von da an erlebte ich nur noch gelegentliche Anwandlungen von Gläubigkeit, bis
Montalembert und Lacordaire mich rund dreißig Jahre später an die Hand nahmen 38 (17).
Diese Zeilen fassen nicht nur Joses festen Glauben seiner Köndringer Zeit zusammen, sie
kündigen auch die in Kenzingen einsetzende Krise an und weisen auf die erneute und
endgültige Hinwendung zur Gläubigkeit des gereiften Cabanis hin.

Aber noch ist Jose in Köndringen, wo sich sein Tagesablauf seither kaum verändert hat (18):
Seine Arbeit empfindet er als hart: In einem mit Wellblech gedeckten, in der prallen Sonne
stehenden, ebenerdigen Gebäude, über die Wanne mit geschmolzenem Blei gebeugt, die
Brennerflamme vor sich, Gummihandschuhe übergestreift, kommen ihm die Tage ohne die
geringste Abwechslung unendlich lang vor. Zwar ist es nicht so schlimm, wie es im Bleibergwerk
in Seintein (vgl. 10) war, aber Jose sehnt sich nach den kühlen Gängen und Hörsälen
der Universität von Toulouse. Von seinen harten Arbeitsbedingungen erwähnt er seinen
Eltern gegenüber nur, dass er befürchtet, an ihrer Eintönigkeit zu verblöden. 1998 wird er
dann mit leicht ironischem Unterton feststellen, dass diese Befürchtung unbegründet war und
dass er damals keine Ahnung davon hatte, was in anderen Fabriken Deutschlands geschah.
Ich hatte nicht die Spur einer Ahnung von Lagern, von Deportationen, elenden Transporten,
von wissenschaftlichen Experimenten an lebenden Menschen, von den entsetzlichen Dingen,
die im selben Augenblick im selben Land geschahen, und die uns nichts, absolut nichts
enthüllen konnte.7,9

16 Cabanis, Lettres, S. 62.

" Ebd., S. 122 (Kommentar von 1998).

,8 Ebd.

"Ebd., S. 129.

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