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und M. (35) erlitten habe, genau auf die gleiche Art und ebenso blöde und unnütz. Die
Erfahrung hätte mich lehren sollen, daß ... Und wie kann ich mich nicht verachten, wenn ich
mich von einer Lösung zur anderen hin- und hergerissen sehe, indem ich für immer mit ihr
breche und einige Minuten später wieder neu anfange, wobei ich erst sie ob ihrer Falschheit
verfluche und gleich darauf mich selbst, weil ich ihr Gefühle unterstellt habe, die sie ganz
offensichtlich [mir gegenüber] nicht hat. Schließlich, wenn ich an mein ängstliches Hin- und
Hergelaufe, an meine Nachforschungen, an meine Erwartungen, an mein Leiden denke, muß
ich einfach auch Mitleid mit mir haben, muß jene beneiden, welche die Liebe durchmachen,
ohne unglücklich zu sein. Heute, als ich gegen halb eins an der Kirche vorbeiging, sagte ich
mir, daß man auf das Glücklichsein verzichten sollte, und daß es, so wie ich mich kenne, klüger
wäre, endlich den Gedanken zu akzeptieren, daß ich zu schwach und zu empfindsam bin, um
klug zu leben [...]n
Wunderbare, romantische Abende tiefer Zuneigung wechselten mit Zeiten des Zweifels, ja der
Abneigung. Seinem Tagebuch vertraute Jose die Höhen und Tiefen, die Widersprüche seiner
Liebe zu Anna an:
(11. Mai:) - Wenn es bejammernswerte Tage gibt, so gibt es auch wunderbare Abende. Abende,
an denen nichts fehlt: der Frühling und seine Zweige über unseren Häuptern, die Abgeschiedenheit
und die hereinbrechende Nacht, die Milde der Luft und die Stille der Landschaft
und ihr Gesicht, das mir zulacht, ihre Augen in den meinen und die leichte Neigung des Kopfes
zur Seite und ihr Schmollmund. Hier ist meine Jugend, das sind die Stunden, die nicht
wiederkommen werden. Dies macht das Leben lebenswert.99
(14. Mai:) - Ein ziemlich trübseliger Tag, an dem ich viel mehr an Anna als an Mama gedacht
habe, an dem ich viel mehr unter der Abwesenheit der einen als der Abwesenheit der anderen
gelitten habe. Und dennoch weiß ich wohl, daß ich Mama so viel mehr als Anna liebe, daß sie
zu vergleichen fast lächerlich ist.100
(15. Juni:) - Unter all den Frauen, die ich gekannt habe, ohne sie zu lieben, wäre Anna
wahrscheinlich diejenige gewesen, die ich am ehesten geliebt hätte. Hat sie kein Gefühl, und
kann sie niemanden lieben? Oder bin gerade ich es, den sie nicht liebt? Kalt, nie eine Regung,
ohne ein zärtliches Wort ist sie stets passiv, scheint sie überhaupt keine Lust, keinen Wunsch zu
verspüren. [...] die Stunden vergehen, ohne daß sie mir ein einziges Mal sagte, daß sie mich
liebt, ohne daß sie etwas täte, das es mich glauben lassen könnte. [...] Heute ist diese Liebe
eine Totgeburt. Schade, sie ist sehr hübsch.101
(10. Juli:) - Gestern Abend hatten wir uns ein wenig gezankt, zwei Minuten auf der Wiese oben
auf dem Hügel. Ich lehnte mich gegen eine Böschung und zog sie an mich. Wir haben uns
aneinander gepreßt und geküßt in der hereinbrechenden Nacht. [...] Ich hatte den ganzen
Frühling im Herzen und all meine Jugend auf den Lippen. [...] Wie schön ist es zu leben. Ich
werde das Leben nie als ein 'Jammertal' sehen können.'02
(21. August:) - Damit ich es nicht vergesse, möchte ich hier sagen, was Anna für mich und mit
mir geworden ist: Was ich ihre Kälte nannte, ist nach und nach verschwunden, und ich weiß
* Cabanis, Les profondes annees, S. 207 f.
" Ebd., S. 208.
■ Ebd., S. 208 f.
" Ebd., S. 211.
,: Ebd., S. 213 f.
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