Universitätsbibliothek Freiburg i. Br., ZG 4885
Die Pforte
24. und 25. Jahrgang.2004/2005
Seite: 46
(PDF, 30 MB)
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jetzt, daß sie mich liebt. [...] Sie sagte mir gestern: „Wir dürfen nichts bedauern, wenn wir
getrennt werden. Wir müssen uns sagen, daß wir zusammen glücklich waren, und daß die Zeit
schnell vergangen ist." Und sie war erstaunt, mich weinen zu sehen.103 Weinte Jose vor Glück
oder war es die von Anna erwähnte Trennung, die ihn zu Tränen rührte?

Er fragte sich manchmal, was ihn so an sie band. Er sagte sich, daß er sie im Grunde sehr
wenig kannte, daß das Hindernis zweier verschiedener Sprachen wahre Vertraulichkeit, lange
Erzählungen zwischen ihnen verhinderte, daß er nur zusammenhangslose Details aus ihrem
Leben kannte, daß er von ihren Neigungen, ihren Wünschen, ihren Hoffnungen fast überhaupt
nichts wußte. Wie ihre Zukunft aussehen würde, war für ihn sicher: Sie würde ohne ihn leben
und würde ihn wahrscheinlich vergessen - das war das einzige, dessen er sich sicher war. So
nahe sie ihm auch körperlich sein mochte und trotz ihrer gegenseitigen Zärtlichkeit blieb sie
eine Fremde, die der Zufall in seine Nähe gebracht hatte, die bald nicht mehr da sein würde,
und deren Herz er nie durchdrungen haben würde. Im übrigen: Begehrte er sie? Es genügte
ihm, ihr Gesicht zu sehen oder wie sie vor ihm herging. Jeder Zug ihres Gesichtes war wundervoll
. Er liebte ihr Lachen, mit Fältchen um die Augen und makellosen Zähnen, er liebte ihr
Lächeln, das ihren Blick blauer zu machen schien, ihn funkeln ließ. Er liebte den ernsten Ausdruck
, den sie manchmal annahm, die Aufmerksamkeit, mit der sie ihn dann musterte, die fast
kindliche Besorgnis auf ihrer Stirn. [...] er hätte vor ihr niederknien wollen. Sie war die Schönheit
an sich, mit ihrer ganzen, ungetrübten Jugend. Es kümmerte ihn wenig zu wissen, welches
ihre Gedanken sein mochten, ob sie überhaupt denken konnte. Sie war unwissend und
wahrscheinlich dumm. Es wäre eine Torheit seinerseits gewesen, mit ihr leben zu wollen.
Daran dachte er nicht einmal. Aber er war glücklich, sie getroffen zu haben und von einer so
schönen Frau geliebt worden zu sein.m

Diese Zeilen, die der junge Jose am 5. August in sein Tagebuch eingetragen hatte, bezeichnete
Cabanis 31 Jahre später als meine erste Seite ,Literatur' (36). Es ist eine Tagebuchseite, aber
in der dritten Person geschrieben."* Schriftsteller zu werden, war - wie er damals glaubte -
seine Berufung, an der er seit seinem zehnten Lebensjahr arbeitete und die er als reifer Mann
im April 1975 als den Irrtum seines Lebens verurteilte: Zu meinem Unheil und meiner Verwirrung
wollte ich Schriftsteller werden, und allem zum Trotze weihte ich mich einer Aufgabe,
die mich völlig in Besitz nehmen und mir fast alles vorenthalten sollte; und das Ergebnis war
das Nichts. [...] Am Schuljahresende angekommen, bin ich mein eigener Prüfer und gebe mir
eine schlechte Note: durchgefallen."* Noch aber ahnte Jose nichts von dieser niederschmetternden
Bilanz seines Literatenlebens. Noch hatte er eine wenn auch fragliche und
unbestimmte Zukunft vor sich als 22-jähriger Franzose im Land des Feindes, als Fremdarbeiter
, der nicht zählte, den man nach Belieben ausnützen konnte, allem und jedem ausgeliefert.
Ich war eine Zahl, eine Nummer, [...] und man muß dies durchlebt haben um zu wissen, wie
allein man dann auf der Welt ist, unbewaffnet, verletzlich, eine Fliege, ein Insekt, ein kleiner
Tausendfüßler, den der erstbeste Schuh zerdrückt.101 Indessen kam der Krieg unaufhaltsam
näher.

103 Cabanis, Les profondes annees, S. 216.

104 Ebd., S. 214 f.
103 Ebd., S. 215.

106 Ebd., S. 215 f.

107 Ebd., S. 213.

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