Universitätsbibliothek Freiburg i. Br., ZG 4885
Die Pforte
24. und 25. Jahrgang.2004/2005
Seite: 48
(PDF, 30 MB)
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Mama, Mama, Mama, wiederzusehen.1'2 Vater und Mutter bleiben für den jungen Mann die
wichtigsten Personen auf der Welt. Auch wenn Anna die Erinnerung an die Mutter zeitweise
in den Hintergrund drängt, sind ihm seine Eltern doch immer gegenwärtig: Das ist der Unterschied
zwischen dem, was zählt und dem, was weniger wichtig ist: Die Gefühle, die Anna in
mir weckte, ich suche sie, und ich finde sie nicht mehr, stellt Cabanis 1975 fest, während ich
alles, was ich gerade [im Tagebuch] meine Mutter betreffend gelesen habe, wieder so
schreiben würde, zumindest was die Hoffnung auf ein Wiedersehen betrifft.1"

Die militärische Lage hatte sich gerade wieder etwas beruhigt, und Jose fühlte sich im siebten
Himmel mit Anna, da zogen erneut Wolken auf: In Riegel wurden russische Soldaten der
Armee Vlasov (37) einquartiert. Sie zeigten sich auch in Kenzingen, nach deutscher Art gekleidet
in schneidiger Uniform mit Stiefeln, bewaffnet und mit Geld. Jose wird Zeuge, wie sie
eines Abends in Formation durch die Stadt marschieren und im Dämmerlicht ein Lied von
unvergleichlicher Zartheit und Poesie singen. Kein Wunder, dass sie auf die russischen Mädchen
großen Eindruck machten und ganze Abende mit ihnen im Lager verbrachten. Sogleich
wurde Joses Liebe zu Anna das, was Liebe für ihn immer war: Ein beharrlicher Kummer, der
mich beim Aufwachen empfängt, um mich nicht zu verlassen, bis ich am Abend mich unwohl
fühlend und erregt endlich einschlafe."4 Jose leidet, ist eifersüchtig: Er ist nur ein einfacher
Hilfsarbeiter im schäbigen Blauen Anton. Wie kann er da vor seiner kleinen Ukrainerin mit den
blauen Augen115 bestehen, zumal die russischen Soldaten ihr wütende Vorwürfe wegen ihres
französischen Freundes machen, sie mit dem Revolver bedrohen, ein Kreuz auf ihr Bett im
Schlafsaal zeichnen und ihr sagen, es werde bald leer sein. Anna weint, versichert Jose ihrer
Liebe und will ihn nicht verlassen. Dennoch kann sich Jose keinen anderen Ausweg vorstellen
als eine Trennung von seiner einzigen Freude.

Er täuscht sich und möchte weinen vor Glück, weinen, sich so sehr geliebt zu sehen: Anna hat
all den Drohungen getrotzt, hat alle unerwarteten Anträge zurückgewiesen, selbst den, einen
Offizier zu heiraten und damit ihren Aufenthalt in Kenzingen sofort abzubrechen. Und alles
das, vertraut Jose seinem Tagebuch an, ist nichts angesichts ihres Blickes, wenn sie sich mir
zuwendet, ihrer Art, mich in die Arme zu nehmen, der Worte, die sie mir sagt. Ich glaube, es
gibt keine größere Freude auf der Welt als geliebt zu werden. - Die große Frage ist nur: Wird
das dauern? 116 Sollten sie sich eines Tages trennen müssen, denkt er, dann wird er ihr auf jeden
Fall danken für alles, was sie ihm gegeben hat. Und wenn sie ihn am Ende des Krieges noch
immer in gleicher Weise liebt, wird er das große Abenteuer riskieren und die große Torheit
begehen"1, sie mit nach Frankreich zu nehmen. Und Jose entschließt sich, sie von nun an zu
respektieren und ein neues Leben anzufangen. - Warm ums Herz, glücklich, glücklich."* Mit
diesen Worten endet Joses Eintrag vom 8. Oktober 1944.

Fast täglich trifft er sich mit Anna zu kurzen Spaziergängen nach der Arbeit und dem Essen in
der Kantine. Es ist Herbst, Ende Oktober, neblig, grau, düster die Wege. Die Nacht kommt
früh. Es ist schon dunkel, als Jose und Anna zurückkehren. Schweigend gehen sie am
Schwimmbad entlang. Da verspürt Jose plötzlich den Drang, ihr zu gestehen: „Arme Anna, ich
liebe dich nicht mehr." Er sagt es jedoch nicht, weil er fürchtet, dies eines Tages zu bereuen.
Aber er ist sich sicher, dass er sie weniger liebt, und er verwirft seine Absicht, sie nach Frankreich
mitzunehmen.

114 Cabanis, Les profondes annees, S. 224.

115 Ebd., S. 226.

116 Ebd., S. 225.

117 Ebd.

118 Ebd.

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