Universitätsbibliothek Freiburg i. Br., ZG 4885
Die Pforte
24. und 25. Jahrgang.2004/2005
Seite: 53
(PDF, 30 MB)
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über Kenzingen abgesetzt, wären sie nur auf fünf SS-Leute gestoßen, die ihre Haut teuer
verkauft hätten. Aber es wäre eine Angelegenheit von einer Viertelstunde gewesen."* Statt
dessen entfernten sich die Kampfhandlungen ins Elsaß, und die französischen Arbeiter bekamen
wieder stärker zu spüren, daß sie Besiegte waren. Seit dem Sommer arbeiteten in der Fabrik
- mit spitzen Fingern und voller Ekel - auch einige französische Liebesdienerinnen, in verrückte
Fummel gekleidet und mit Kolliers, die ihnen bis zum Bauchnabel reichten"2. Sie waren
bei der Räumung von Paris deutschen Offizieren gefolgt. Eine von ihnen sagte zu Jose: „Sie
werden nach Paris zurückkehren, wir aber nicht."

Auch in der Romanze mit Anna stand nicht alles zum Besten: Nach fast genau einem Jahr der
Beziehung ist Jose seiner Freundin ziemlich überdrüssig. Sie haben sich oft nichts zu sagen und
verbringen die Zeit mit gewissen Handlungen, die allerdings für die Kälte wenig geeignet sind m,
wie Jose sich hier zurückhaltend ausdrückt. Diese behutsame und nur andeutende Art, eine
Liebesbeziehung zu beschreiben, findet sich oft bei Cabanis. Er vermeidet gerne plumpe Direktheit
und überlässt es dem Leser, seine umschreibenden Anspielungen und Bilder weiter auszumalen
.

1944 ging zu Ende, ohne dass etwas für Jose und seine Kameraden entschieden wäre. Ich
befand mich auf der anderen Seite des Rheines, der, wie mir schien, sich in jenen Tagen zurückzog
, sich entfernte, wieder diese Sperre wurde, die mich von allem, was mein Leben gewesen
war, trennte. Und doch gab mir dieses kleine deutsche Dorf, in dem ich jede Straße, fast jedes
Haus kannte und wo ich mit geschlossenen Augen hätte gehen können, Ruhe und Sicherheit.
Sehr wenige Orte auf dieser Erde sollten mir vertraut werden: Früher Bagneres, Toulouse mit
seinem nun schon 50 Jahre währenden Hin und Her zwischen der Stadt [Toulouse] und Nollet
(vgl. 4) und [nun] Kenzingen, auf halbem Weg zwischen Rhein und Schwarzwald, wohin der
Zufall mich führte und wo ich mich schließlich daheim fühlen sollte. [...] Ich habe dort nicht
nur Anna kennengelernt, sondern auch die Freundschaft und die Güte jener, die mich bei sich
aufnahmen, mir zu essen gaben, mir einen Tisch, einen Sessel, eine brennende Lampe, unter
der ich am Abend lesen konnte, ein Haus, in dem ich kein Fremder mehr war, boten. Ich klopfte
gerne an manche Türen, wo ich jedesmal mit einem Lächeln empfangen wurde und der Einladung
, mich zu setzen, es mir bequem zu machen. Man freute sich sehr, wenn man sah, daß
ich dort einen Nachmittag verbrachte, die Nase in ein Buch gesteckt, denn für diese einfachen
Leute war ich ein Student trotz der Wechselfälle des Lebens; und man achtete das Wissen und
das Studium - mehr vielleicht als sie es verdienten. Man war stolz, wenn ich in diesen Küchen
auf einem Stuhl vor einem weißen, Ruhe ausstrahlenden Holztisch sitzend sagen konnte, daß
ich mich wie in einem Palast fühlte. Du Küche der Mutter von Anneliese Fleig, du würdest es
verdienen, wie das von Engeln getragene Haus der Heiligen Jungfrau direkt ins Paradies
geflogen zu werden mit diesen beiden Frauen (42), die es bewohnten und die so viel Mitleid
mit uns hatten. Eine Krämerin stellte mir die Bibliothek ihres Bruders, der Universitätsprofessor
war, zur Verfügung (43) in der es eine Menge französischer Bücher gab, und fast bis zum
Ende wurde dies meine überreiche literarische Kornkammer. In einem anderen Haus hörte ich
fast jeden Abend den englischen Rundfunk (44), nicht zu laut; und auch da mußte ich essen;
man tischte mir das Beste auf, was man hatte. Ich habe für immer gelernt, das Volk zu lieben
und zu bewundern, ihm immer Recht zu geben, ihm, dem Volk, welches vom Geld nicht verdorben
wurde. Daß dies das deutsche Volk war, war eine heilsame Lektion nach all dem, wovon
die verlogene „Geschichte Frankreichs" (45) mich hatte überzeugen wollen. Ich war geworden
, was ich geblieben bin: sehr revolutionär. Aber es war unmöglich, in diesem Tagebuch

131 Cabanis, Les profondes annees, S. 240.

132 Ebd.

133 Ebd., S. 240 f.

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