Universitätsbibliothek Freiburg i. Br., ZG 4885
Die Pforte
24. und 25. Jahrgang.2004/2005
Seite: 55
(PDF, 30 MB)
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gemeinsamen späteren Lebens als absurde Torheit und stellt fest: Wir sind etwa auf dem toten
Punkt."1' Am 22. Januar muss Annas beste Freundin, Nina, Kenzingen verlassen. Die beiden
waren unzertrennlich gewesen; „wie Schwestern" pflegte Anna zu sagen, und Jose hatte oft die
Eifersucht auf Nina geplagt. Jetzt allerdings vermisst er echten Abschiedsschmerz bei Anna:
Anna hat drei Tränen vergossen am Tag, als sie [Nina] die Fabrik verließ '", und stellt fest: Sie
hat ein kleines Spatzenhirn. [...] Sie ist wie ein Kind - aber bezaubernd, unvergeßlich.1™ Wieder
eine Woche später kommt es gar zur Trennung: Gestern abend habe ich - ohne Zorn und ohne
Geschrei - mit Anna gebrochen."" Anna hatte am Nachmittag - nicht das erste Mal - Schnaps
getrunken, so dass sie sich hinlegen musste und noch am Abend eine Fahne hatte. Darüber hinaus
hatte sie Jose wieder einmal belogen, obwohl er ihr des öfteren schon gesagt hatte, dass
er dies nicht ertragen könne. Weder besonders froh noch besonders traurig stellt er fest, dass er
mit der Trennung die größte Dummheit seines Lebens endgültig vermieden habe und meint
damit das Versprechen, Anna mit sich nach Frankreich zu nehmen.

Es folgen schmerzliche Tage für ihn. Er fühlt sein Verlangen, zu lieben und geliebt zu werden,
grausam ungestillt. Wie immer, wenn er tief entmutigt ist, entsinnt er sich seiner Mutter und
dessen, was sie ihm in dieser Situation geraten hätte. Zu ihr bewahrte er ein sehr inniges Verhältnis
, er liebte und verehrte sie, und sie blieb ihm sogar nach ihrem Tod stets gegenwärtig.
Ihre Stimme wurde für ihn überzeugender als jedes Argument: Ich hätte allem widerstanden,
aber weder meine Intelligenz noch meine Lust am Vergnügen werden diese Stimme übertönen
können. [...] Meine Mutter [...] war, selbst nach ihrem Tod, eine Präsenz, die mich unwiderstehlich
zum Glauben brachte.1411 Ihrer Art, den Glauben zu leben, verdankt Jose Cabanis, dass
seine Gläubigkeit die Krise während seiner Jugendjahre unbeschadet überdauerte: Wenn der
Glaube eine Gabe Gottes ist, kann man andere nur bereit machen, sie zu empfangen; man kann
niemanden überzeugen, man kann nichts beweisen. Es genügt (ist aber notwendig) selbst gläubig
zu sein, vom Glauben durchdrungen zu sein: Dann wird der Glaube weitergegeben, teilt er
sich mit, dann überträgt er sich wie eine Krankheit, eine Ansteckung.^

Anna hätte er sicher vergessen, meint Jose, wäre sie ihm in der Fabrik nicht täglich gegenüber
gesessen. So aber erinnerte sie ihn ständig an so viel glückliche Gemeinsamkeit, dass er
schließlich nicht länger widerstehen konnte und ihr gestand, dass er sie immer noch liebe, dass
er ohne sie nicht leben könne und sie anflehte, ihn nicht zu verlassen. Am dritten Tag nach der
Trennung versöhnten und küssten sie sich am Fabriktor und Jose bat sie, ihm zu verzeihen, dass
er sich in den vergangenen Tagen mit L. vergnügt hatte. Paradoxerweise fand er sein Verhalten
im gleichen Augenblick absurd, besonders auch, weil der russische Soldat, der Anna schon
einen Monat zuvor den Hof gemacht hatte, in Weisweil wohnte, von wo aus dieser sie jeden
Abend besuchen konnte.

Bei so viel jugendlicher Verwirrung nahm Jose sich vor, Ordnung in seine Gedanken zu bringen
, und analysierte die Unzulänglichkeiten der Liebe. Unvollkommenheit, denkt er, ist ihr
eigentliches Wesen: Aus der Unvollkommenheit des geliebten Wesens, der mangelnden Verhältnismäßigkeit
zwischen seinem wirklichen Wert und den Gefühlen, die es weckt, aus der
Unvollkommenheit, ja dem gelegentlichen Fehlen der Liebe, die es uns entgegenbringt,
schließlich aus der Unvollkommenheit der Liebe, die man für es hegt, aus diesen drei Unvoll-

134 Cabanis, Les profondes annees, S. 248.

137 Ebd., S. 249.

1M Ebd., S. 249 f.

m Ebd., S. 249

l4"Ebd., S. 251.

141 Ebd., S. 252.

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