Universitätsbibliothek Freiburg i. Br., ZG 4885
Die Pforte
24. und 25. Jahrgang.2004/2005
Seite: 56
(PDF, 30 MB)
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kommenheiten entstehen solcher Aufruhr in der Seele, solche Zerrissenheit und solche Begeisterung
, daß man von einem Augenblick zum anderen vom höchsten Glück in tiefste Verzweiflung
stürzt. Nirgendwo findet man ein solches Ungleichgewicht zwischen Ursache und
Wirkung, ein Ungleichgewicht, das an Wahnsinn grenzt, so daß man geneigt ist, sich zu fragen,
ob man die Erklärung für die „Liebesleidenschaft" nicht an anderer Stelle suchen sollte als da,
wo man sie normalerweise zu finden glaubt. [...] Wir verfolgen in der Liebe den Traum von
einem absoluten, makellosen Gefühl, das niemand auf der Welt (vielleicht mit Ausnahme der
Mutter) uns zu geben vermag und das wir selbst gar nicht empfinden können. Man braucht
nicht viel Klarsicht, um bei jedem Versuch enttäuscht zu sein. Daher versprechen wir auch
jedes Mal, daß es der letzte ist.'42

Die Beziehungskrise zwischen den beiden aber scheint weder durch Joses philosophische
Betrachtungen noch durch die glückliche Versöhnung überwunden, denn am 11. Februar gesteht
Jose in seltener Direktheit: In der Woche, die gestern zu Ende ging, habe ich Anna dreimal
mit zwei verschiedenen Frauen betrogen. So viel banale Unzucht ekelt mich.m (46) Er
empfindet Abscheu ob seiner Ausschweifungen, will sich bessern, beichtet, kommuniziert -
und macht munter weiter: der Krieg läßt die Sitten verwildern. [...] ich wäre wenigstens gerne
als Katholik gestorben, aber ich war - schon immer - ein seltsamer Katholik, wenig
empfehlenswert in den Augen anständiger Leute. In den Pausen zwischen den Bombenabwürfen
, nachdem ich alle zehn Meter in einen Graben getaucht bin oder mich an eine Mauer
geworfen habe, und nachdem ich gespürt habe, wie die Erde unter ohrenbetäubendem Lärm
bebte, tollte ich mit den Mädchen herum, die auch nichts mehr zu verlieren hatten und so leicht
zu verführen waren, daß mir übel wurde.144 Danach tat es ihm leid und er bereute, ging in die
Kirche und fasste gute Vorsätze, die von kurzer Dauer waren, und begann das Spiel von vorne
ohne eine Spur von Gewissensbissen. Wenn er dabei an seine Eltern, an sein Frankreich dachte,
von dem er glaubte, dass er es wohl nie mehr sehen würde, weinte er auf einem Auge, aber auf
dem anderen - muss er gestehen - lachte er oft.

Am 1. März macht plötzlich die Nachricht die Runde, dass Anna und die rund 20 anderen
Ukrainerinnen in ein „Spezial-Lager" kommen sollten. Jose ist erschüttert: Dass er Anna wird
verlassen müssen, damit meint er notfalls fertig werden zu können. Aber zu wissen, dass es ihr
schlecht gehen und sie unglücklich sein wird, das kann er nicht ertragen. Von Vernichtungslagern
hatten die jungen Franzosen keine Ahnung, und nichts konnte Jose davon überzeugen
, dass die ihn damals umgebenden Deutschen etwas darüber wussten, aber das Wort
„Spezial" rief bei ihm und seinen Kameraden böse Ahnungen wach: Man hatte ihnen von Zeit
zu Zeit damit gedroht, sie in „spezielle" Lager zu stecken, Gefangenenlager hinter Stacheldraht
, mit verschärften und menschenunwürdigen Arbeitsbedingungen. Warum sollte ausgerechnet
eine Gruppe unschuldiger, harmloser, zwanzigjähriger Mädchen die Sicherheit des
Reiches gefährden, so dass man sie einsperren mußte? Wahrscheinlich hatte irgendein Funktionär
diese Idee gehabt, um ihnen zu zeigen, daß sie Freiwild waren. Die Franzosen, Russen,
Belgier, Polen, denen langsam die Arbeit ausging, wurden zusehends zu nutzlosen Mäulern,
die gestopft werden mussten.

Welche Erleichterung am folgenden Morgen! Anna soll nun doch in eine normale Fabrik nach
Furtwangen kommen. Dennoch liegt tiefe Traurigkeit über dem Spaziergang am Abend. Anna
gibt Jose ein Foto mit Datum und der Widmung „von Halka". In drei Tagen soll die Abfahrt
sein. Bis dahin will er sie täglich möglichst lange sehen. Ein schwerer Luftangriff verhindert

142 Cabanis, Les profondes annees, S. 253 f.

143 Ebd., S. 255.

144 Ebd., S. 259.

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