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dies schon am nächsten Tag, und er trifft sie erst am Abend bei Nina, die nach Kenzingen
zurückgekommen ist. Anna ist krank, und Jose und Nina begleiten sie ins Lager. Tags darauf
steht Jose alleine auf der Terrasse des Gasthauses Beller, blickt die menschenleere Adolf-
Hitler-Straße145 hinunter auf der Suche nach seiner Anna und denkt: Heute ist der letzte Tag, an
dem sie aus einer Seitenstraße auftauchen kann, an dem ich sie treffen kann, wo ich weiß, daß
sie da ist, nicht weit von mir. Dieses Mal handelt es sich nicht um ein „Auf Wiedersehen", sondern
einen Abschied ohne Wiederkehr. Mein Kind, meine Schwester geht ihrem Geschick entgegen
. [...] Jetzt, wo sie abreist, ist sie nicht mehr die oft zu distanzierte, zu kalte Anna, die sich
entzieht, sondern die kleine Halka, die mir so oft sagte, daß sie mich liebte, [...] die Gefährtin
meiner langen Arbeitstage und meiner Frühlings- und Sommerabende. Ich habe die Abenteuer
satt. Die, bei denen das Herz keine Rolle spielt, stoßen mich ab. Und die, bei denen man sein
Herz gibt, hinterlassen zu viel trostlosen Schmerz.'*6
Annas Abreise verzögert sich: seit einer Woche wird sie von einem Tag auf den anderen verschoben
, und immer ist der kleine Rundgang zu zweit möglicherweise der letzte. Es regnet
schon acht Tage fast ununterbrochen. Jose macht einen Tagebucheintrag in der kleinen Hütte
auf dem Hügel, in die sie früher oft bei Regen geflüchtet waren oder wo sie Kirschen vom
benachbarten Baum gegessen hatten. Mitte März ist Anna immer noch da. Als sie Jose gleichgültig
geworden war, genügte die Nachricht von ihrer unmittelbar bevorstehenden Abreise,
dass er sie wieder liebte oder zu lieben glaubte. Aber jetzt, mit der Dauer ihres verlängerten
Aufenthaltes, sieht er sie mehr und mehr im alten Licht: hübsch, aber unbedeutend. Die alte
Sprachlosigkeit stellt sich wieder ein ...
Einkehr
Eine Woche vor seinem 23. Geburtstag am 24. März 1945 beschließt Jose aus diesem Anlass
eine Art intellektueller Einkehr. Unzufrieden mit seinem Leben voller Widersprüche, will er
Bilanz ziehen, wissen, wer er ist, was er hat, was ihm fehlt, mit dem Ziel, an seinem Geburtstag
ein neues Leben zu beginnen, das vielleicht weniger absurd sein würde als das bisher
geführte. Dafür sucht er eine Basis: Es geht um nichts Geringeres als darum, eine „vorläufige
Moral" zu formulieren, die ich so lange anwenden werde, als ich nichts Sichereres entdeckt
habe. Das wird nicht nur eine Regel fürs Leben sein, auch der Gedanke des Todes, der in jedem
Augenblick möglich ist, wird eine Rolle spielen.147 Wer er ist, was er hat, was ihm fehlt, das
weiß der Schriftsteller Jose Cabanis nach eigener Aussage auch mit 53 Jahren nicht besser als
damals. 1975 in Nollet sieht er sich ebenso einsam, widersprüchlich und eigenbrötlerisch wie
im März 1945 in Kenzingen. Immer am Rande der Gesellschaft lebend, zurückgezogen im
Hintergrund, kennt er nur eine vorläufige Moral, nur fragliche, stets gefährdete Überzeugungen
, Kontinuität bloß in der Inkohärenz. Er sieht für sich keinen Fortschritt, glaubt nie erwachsen
geworden zu sein. Aber er ist stolz darauf, nie Kompromisse geschlossen und immer nur
das geschrieben zu haben, was er - im jeweiligen Augenblick - für die Wahrheit hielt.
Die Wahrheit zu Beginn des Jahres 1945 war, daß Jose trotz aller Rückschläge, trotz der
ungewissen und bedrohlichen Zukunft sich nicht aufgeben wollte: Mir ging es darum, mich
trotz allem aufrecht halten zu können, über dem Schicksal zu stehen; und das ist gar nicht so
übel. Ich verabscheute die dummen Heulsusen.I4K Diese mutige innere Haltung stand in schrof-
Die Hauptstraße hieß zu jener Zeit Adolf-Hitler-Straße bis zur kleinen Elzbrücke und nördlich davon
Horst-Wessel-Straße.
Cabanis, Les profondes annees, S. 266.
Ebd., S. 269.
Ebd., S. 247.
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