Universitätsbibliothek Freiburg i. Br., ZG 4885
Die Pforte
24. und 25. Jahrgang.2004/2005
Seite: 58
(PDF, 30 MB)
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fem Gegensatz zu seinem äußeren Erscheinungsbild: Er kam daher wie ein Bettler; seine Kleidung
war zerlumpt, und seine einzige Garnitur Unterwäsche löste sich ebenfalls auf - besonders
an ihrer heikelsten Stelle. Materielle Not und das Bemühen um eine ungebrochene Moral
weckten wieder religiöse Gedanken in ihm: Während Flugzeuge über ihn hinwegdröhnten,
fragte er sich, ob es nicht vielleicht Zeit wäre, auf Gott zu setzen. Dies veranlasste ihn, eine Art
„Gebet", wie er es selbst nannte, in sein Tagebuch zu schreiben:

Ich liebe das Vergnügen, das, was den Menschen glücklich macht, die Liebe und die
Zärtlichkeit der Frauen, die Freude eines Sommertages, die Musik und alles, was schön ist auf
Erden. Ein Sonnenstrahl auf einem Zweig genügt, damit ich das Leben schön finde. Wenn ich
zu Dir, mein Gott, komme, nimm mir bitte all dies nicht weg, laß mich weiter Baudelaire, Gide,
Proust und Stendhal lesen. Ich befürchte sehr, mein Gott, daß du mir alles nehmen wirst, was
ich liebte."9 Später, nach 30 Jahren, meint Cabanis zu seinen Gedanken von damals: Gott
wählen, weil man nichts mehr zu verlieren hat, und befürchten, daß man alles verliert, wenn
man Gott wählt, diese Wahl und diese Furcht zusammen sind sehr logisch. Was weniger logisch
ist, war dieser Embry o von Gebet, und daß ich mich an jemanden wandte, dessen Existenz ich
nur in einem Tief zu begreifen schien.150

Ich bin weit vom Katholizismus entfernt^, bekennt Jose. Wenn er auch gelegentlich beichtet
und kommuniziert, er tut das ohne Überzeugung, ohne innere Anteilnahme, ohne Glauben.
Aber wenn Gott sich nicht meinem Verstand offenbart, muß er , im Herzen spürbar' sein, wenn
nicht, wie sollte ich gläubig werden? Gewiß, ich habe keine für das Evangelium offene Seele,
und ich bin von sehr weltlichen Wünschen und Gewohnheiten besessen, aber ich glaubte, mein
Möglichstes getan zu haben, um mich Gott zu nähern [...]. Aber in mir herrscht absolute Leere.
[...] Ich weiß wohl, mein Gott, daß ich Deiner unwürdig bin, aber Du solltest Dich meiner
erbarmen.^2

Vergeblich bemüht er sich in den folgenden Wochen als Christ zu denken und zu leben]-}: Doch
die versuchte Umkehr erfüllt seine Erwartungen nicht. Er kann für sein Tagebuch nichts finden
, was er durch den Katholizismus gewonnen hätte; also listet er all das auf, was er durch
ihn verloren hat, nämlich Begeisterung und Vergnügen: [Ich verlor] die Begeisterung, mit der
ich mich jeden Tag ins Leben stürzte, wobei ich auf eine neue Lust hoffte und die sich bietende
ergriff; die sinnlichen Vergnügen, die in der Lage, in der ich mich befinde, die einzigen oder
fast die einzigen sind, die uns bleiben und uns noch an das wirkliche Leben binden. Meine Tage
sind leer und hohl. Sie beginnen und enden in derselben Eintönigkeit, derselben Langeweile.
Es gibt kein erwartetes und herbeigesehntes Morgen mehr, keine Augenblicke der Begeisterung
. Und sogar diese Zeilen, die ich gerade schreibe, sind - fühle ich - nichts wert, denn ich
bin zu nichts mehr nutze, so lange ich mich zwinge, mir diese Komödie vorzuspielen. Die seit
Wochen stets vorhandene Möglichkeit des Todes läßt mich den Glauben begehren - und ich
kann nicht glauben.™

Und so scheitert die Abkehr von der Welt der Sinnesfreuden an der Unmöglichkeit, den
Glauben zu finden. Es dauerte nur kurze Zeit, und ich warf alles über Bord, und ich gab meinen
Widerstand ohne einen Anflug von Schuldgefühl auf", resigniert Jose. Dass er aufhört, sich die

4" Cabanis, Les profondes annees, S. 248.
50 Ebd.

" Ebd., S. 255.
s: Ebd., S. 254 f.

53 Ebd., S. 257.

54 Ebd., S. 257 f.
" Ebd., S. 259.

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