Universitätsbibliothek Freiburg i. Br., ZG 4885
Die Pforte
24. und 25. Jahrgang.2004/2005
Seite: 69
(PDF, 30 MB)
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Stellung zur menschlichen Existenz grundlegend geprägt hat: Hier gab es keine deutsche
Armee mehr sondern Banden, die hin- und herzogen, Lastwagen, Kanonen, die geschleppt
wurden, verzerrte Gesichter, von denen der Schweiß triefte, und wir waren nur irgendwelche
Fremde am Straßenrand, deren Leben für niemanden zählte. [...] Ich hatte damals das Nichts
an menschlicher Würde erreicht [...]. In Kenzingen hatte ich trotz allem einen Anschein von
sozialem Leben. Man kannte mich, man hatte mich schließlich kennengelernt, und ich konnte
handeln, mich ein wenig verteidigen. Von nun an war ich wirklich nichts mehr. Diese Erniedrigung
wurde mein Heil, das letzte Stück auf diesem Weg, von dem ich schon gesprochen habe.
Ich habe die Wahrheit gefunden, indem ich alles verlor. Ich habe diesen Verfall und diese
Erniedrigung akzeptiert, und ich habe mich neu orientiert. Es ging nicht mehr darum, an Gott
zu denken, weil ich den Tod fürchtete - ich fürchtete ihn nicht mehr, er war nur noch ein Risiko,
das ich eingehen mußte - sondern ich fühlte und sah mich alleine, meiner selbst verlustig, ohne
einen Hauch von Bedeutung, und ich sagte mir, daß ich endlich klar sähe. Ich hatte keinen
Grund zu existieren, und alles war absurd, wenn es keinen Gott gab, ohne den ich nicht leben
konnte.^1 Was der junge Jose auf seinem Kreuzweg nach Bollschweil erfahren, gespürt und
gedacht hat, verdichtet der reife Cabanis rückblickend in diesen Sätzen in geradezu cartesia-
nischer Klarheit zu einer Synthese aus „tabula rasa" und Gottesbeweis: Neuorientierung durch
das Verwerfen aller bisher für wahr erachteten Werte wie soziale Existenz und Menschenwürde
bildet die Basis für die neue Gewißheit: credo - sum. Wenn ich glaube, bin ich, als Gläubiger
bin ich.

In Bollschweil angekommen, werden die Franzosen in der Schule untergebracht, zusammen
mit etwa 30 fröhlichen Italienern, die, zum Nichtstun entschlossen, den Deutschen die Lässigkeit
mediterraner Lebensweise entgegensetzen. Aber Jose findet sie zu laut, sie streiten und
gestikulieren ihm zu viel, so dass er aus dem Lärm des Lagers in die Kirche flüchtet, wo er
Ruhe findet und ungestört sein Tagebuch führen kann. Am Abend erhalten sie eine Suppe und
für den Tag etwas Butter und eine Scheibe Käse, die sie mit einem Stück Brot verzehren. Die
Arbeit, in 5 km Entfernung, ist zum Glück nicht zu schwer. Ohne Sondererlaubnis dürfen sie
Bollschweil nicht verlassen; sie müssen um acht Uhr im Lager sein, eineinhalb Stunden später
geht das Licht aus. Jose fühlt sich wieder zu einem namenlosen „Stück" erniedrigt. Ich akzeptierte
das Unvermeidliche und alle seine Konsequenzen, aber ich war entschlossen, gegen alles
zu kämpfen, was vermeidbar war, und mit allen Mitteln zu versuchen, nach Kenzingen zurückzukehren
, welches mir mein einziges, mein wahres Vaterland zu sein schien.168

Am 7. April ist es neblig und kalt. Dreck überall. Man kann nirgendwo hingehen, alle
Gasthäuser sind geschlossen. Die Arbeit ruht, aber Jose und einige andere müssen ein totes
Pferd wegschaffen, ein schwieriges und ekelhaftes Geschäft. Jose grübelt, wie er seine Situation
bessern könne, und er hat die vorzügliche Idee, seine Deutschkenntnisse einzusetzen und
mit einem kleinen Leiterwagen aufs Land zu ziehen und auf den Bauernhöfen Kartoffeln für
die hungernden Kameraden zu kaufen. So brauchte er während seines gesamten weiteren
Aufenthaltes in Bollschweil weder Schaufel noch Pickel anzurühren; seine Arbeit war leicht,
und er erledigte sie alleine. Sie machte ihm Spaß, weil sie ihn in die kleinen Seitentäler führte
und ihm erlaubte, sich anschließend auf die Empore der Kirche zurückzuziehen, wo er lesen
und schreiben konnte. Bis schließlich Paula kam und ihn zurückholte.

Es begann am 9. April. Jose ist gerade auf seiner Hamstertour, da trifft er Paula. Diese hat sich,
sobald sie seine Adresse erfahren hatte, zu Fuß nach Emmendingen aufgemacht und kommt per
Fahrrad in Bollschweil an. Sie bleibt bis zum Nachmittag, und die beiden schmieden Pläne.

Cabanis, Les profondes annees, S. 282 f.
Ebd., S. 283.

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