Universitätsbibliothek Freiburg i. Br., ZG 4885
Die Pforte
24. und 25. Jahrgang.2004/2005
Seite: 84
(PDF, 30 MB)
Bibliographische Information
Startseite des Bandes
Zugehörige Bände
Regionalia

  (z. B.: IV, 145, xii)



Lizenz: Creative Commons - Namensnennung - Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0
Zur ersten Seite Eine Seite zurück Eine Seite vor Zur letzten Seite   Seitenansicht vergrößern   Gegen den Uhrzeigersinn drehen Im Uhrzeigersinn drehen   Aktuelle Seite drucken   Schrift verkleinern Schrift vergrößern   Linke Spalte schmaler; 4× -> ausblenden   Linke Spalte breiter/einblenden   Anzeige im DFG-Viewer
http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/pforte-2005-24-25/0086
angewidert, den Verlust von Tiefe und die Flüchtigkeit des Erlebens bedauert (60). Ich glaube
nicht, daß man etwas gewinnt, wenn man Stufen überspringt, und daß man glücklicher ist, weil
man keine Hemmungen hat. [...] Ich fürchte, man hat viel verloren, weil man sich einbildete,
daß alles erlaubt und ohne Bedeutung sei. Wichtig sind die Stärke des Gefühls und die Wellen
und inneren Bewegungen, die es auslöst und die es verlängern. Das Morgen, das wir erwarten,
verzaubert [...], das Warten verdient es, genossen zu werden, [...].212

Sozialismus

Dauerhaft hingegen bleibt sein Hang zum linken Sozialismus, zur Sympathie mit den Werktätigen
, die Verachtung sozialer Ungerechtigkeit trotz eines weiterhin gelebten Daseins im
Schöße des wohlhabenden Bürgertums. Im Dezember 1974 auf seine Erfahrungen in Seintein
(10) und Deutschland zurückblickend, unterstreicht er, dass ihn die Zeit in Köndringen und
Kenzingen, die er am untersten Ende der sozialen Leiter, stets die mögliche Ausweglosigkeit
der Situation vor Augen, erlebte, mehr gelehrt hätte als jedes Buch. Ich habe ein für allemal
die schreckliche Ungerechtigkeit der Welt erfahren. Seither hasse ich das Geld, den Besitz, den
Profit, die erfolgreichen und ehrenwerten Leute, die reichen Nationen, die Geschäftsleute, die
Armee, die Menschen mit Krawatte, Handschuhen und Aktentasche aus Saffianleder, Verkaufsanteile
, alles was zur Oberschicht gehört, während die große Masse sich abrackert und verhungert
. Auf diese Weise wurde ich ein zweites Mal geboren.20 Und er betont, dass er schon in
Frankreich nicht anders gedacht hatte, dass er aber in Deutschland durchlebte, was bis dahin
für ihn nur Theorie gewesen war: In Deutschland wechselte ich von der Theorie zur Praxis.214
Aus dem behüteten Spießer wurde ein Angehöriger des Subproletariats ohne Recht, schutz-
und hilflos, eine Arbeitsmaschine an der Maschine.

Es war schwierig, ihnen [den Eltern] zu erklären, daß ich in Deutschland immer nur mit den
Proletariern verkehrte und zum Teil sogar mit dem Subproletariat. Unter uns lebten menschliche
Wracks, die man für die Fabriken zusammengesucht hatte, weil man keine Soldaten aus
ihnen machen konnte.215 „Solch eine Entfremdung vergißt man niemals, so glanzvoll auch - wie
im vorliegenden Falle - die Fortsetzung sein möge. Derjenige, der sie durchgemacht hat, wird
für immer auf einer gewissen Seite stehen."2"' Ohne Zweifel trifft diese Feststellung auf Caba-
nis zu, aber nur zu einem Teil, denn es fehlt der Cabanissche Widerspruch: Gerade nur auf einer
Seite stehen ist für ihn zu einfach, zu glatt. Im Wissen, eben doch nicht wirklich zum Proletariat
zu gehören, stellt er sich die Frage nach der allgemeinen Orientierung: Bürgerlich, wer
ist es heute nicht und weigert sich dabei, es zu sein? Vermutlich die Stadtstreicher, einige
Ordensschwestern und viele Klarissinnen (61). Meine Eltern waren es mit dem feinen Unterschied
, daß Religion und Musik meine Mutter gelehrt hatten, daß die Wahrheit anderweitig
ruht, und daß für meinen Vater die menschliche Güte das Allerwichtigste war. 2,7

Bürgerlich - er will es nicht sein und weiß doch, dass er es ist. Sein Sohn Andre kennt die
Bedeutung, die sein Vater dem Deutschlandaufenthalt für sein Verständnis der Arbeiterklasse
zumißt, aber er schreibt: „Man soll den linken Sozialismus meines Vaters nicht überbewerten
."218

212 Cabanis, Les profondes annees, S. 116 f.

2.3 Ebd., S. 173.

2.4 Cabanis, Lettres, S. 62.

215 Ebd., S. 90.

216 Rede zur Aufnahme von M. Angelo Rinaldi in die Academie fran?aise, Öffentliche Sitzung vom
21.11. 2002.

2,7 Cabanis, Lettres, S. 62.

218 „II ne faut pas exagerer le socialisme gauchiste de mon pere". E-mail vom 17.5.2004.

84


Zur ersten Seite Eine Seite zurück Eine Seite vor Zur letzten Seite   Seitenansicht vergrößern   Gegen den Uhrzeigersinn drehen Im Uhrzeigersinn drehen   Aktuelle Seite drucken   Schrift verkleinern Schrift vergrößern   Linke Spalte schmaler; 4× -> ausblenden   Linke Spalte breiter/einblenden   Anzeige im DFG-Viewer
http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/pforte-2005-24-25/0086