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Bei seiner Ankunft in Köndringen sieht er zunächst einige - damals gültige - vorgefasste
Meinungen und Klischees bestätigt: So erscheint ihm alles, von Fabrik bis Friedhof229, auffallend
sauber und ordentlich: „Putzen" war sehr wohl die Losung dieses Landes, ganz im
Unterschied zu dem meinen, wo die dem Wort am nächsten kommende Entsprechung
„ wienern " 230 kaum sehr beliebt war. Glücklicher südfranzösischer Schmutz, ironisiert Caba-
nis im August 1998 und fährt fort: Ich war also erstaunt. Hingegen schienen mir die
Deutschen, die ich jeden Tag sah [...] nicht durch ihre geistige Beweglichkeit zu glänzen."1
Die Beschaulichkeit, diese dem Südfranzosen unbekannte vorsichtige Bedächtigkeit, kann
Joses Begeisterung für seine Zwangsheimat, das lachende Land Baden 232, diese so saubere,
blumenübersäte deutsche Landschaft 233 jedoch nicht schmälern. Und unaufhaltsam ändert
sich das falsche Deutschlandbild, das er von der Schule mitbekommen und das die
Kriegspropaganda aufgebaut hatte.
Die in Briefen und Tagebüchern festgehaltene Geschichte seines Aufenthaltes in Kenzingen wird
zur Huldigung an die Stadt und ihre Bewohner: Der Zwangsarbeiter wird heimisch in seiner
Zwangsheimat, der Ausgestoßene fühlt sich zuhause in seinem Gefängnis. Er liebt und achtet die
Menschen um ihn herum, und sie begegnen ihm in gleicher Weise. Er nennt Kenzingen mein
wahres Vaterland23J, und Paulas Speicher ist für ihn schöner als alle Schlösser der Welt.235
Diese Aussagen sind keine sentimentalen Schwärmereien oder artige Komplimente - beides wäre
ganz und gar nicht Cabanis' Art. Ehrlich nennt er auch das Negative ohne zu beschönigen: Ich
war dort Handlanger für alles: Fließbandarbeiter zehn bis zwölf Stunden am Tag, ich entlud
Waggons am Bahnhof, als es eiskalt war, Waggons mit Backsteinen, welche ich nie vergessen
werde, und die man uns für den Sonntag aufgespart hatte. Ich hob Schutzgräben aus, während
uns die Flieger im Sturzflug angriffen; mit einer Büchse an einer langen Stange leerte ich die
Latrinen der Deutschen.™ Nichts hat er vergessen, was ihm als rechtlosem Fremdarbeiter zugemutet
wurde, und doch bleibt und überwiegt die gute Erinnerung an „sein" Kenzingen.
Die freundschaftlichen Verbindungen zur Stadt und ihren Bewohnern führten Cabanis noch
mehrmals zurück in die Vorberge des Schwarzwaldes (62). Bei einem dieser Besuche traf er
auch Nina wieder, die mittlerweile geheiratet hatte und Kenzingerin geworden war (vgl. 53).
Von ihr erhielt er den traurigen Bericht über Annas Geschick: Sie [Nina] war es, die mir mitgeteilt
hat, daß Anna nach Sibirien deportiert wurde.211
So sehr hat Cabanis „sein" Kenzingen geliebt, dass er darunter litt, beobachten zu müssen, wie
der Ort langsam sein ihm vertrautes Gesicht verlor. Die Stadt, die er gekannt hatte und die seine
Heimat gewesen war, verschwand immer mehr aus der Wirklichkeit, bis sie nur noch in seiner
229 Fabrik: Sie können sich nicht vorstellen, wie sauber die Fabriken und Kantinen hier sind. Überall sind
Blumen. (Cabanis, Lettres, S. 17).
Friedhof: Der Friedhof von Köndringen: ein wahrer Garten und sehr gepflegt. Voller Blumen, keine
verwahrlosten Gräber wie in Frankreich. (Ebd., S. 67)
230 «Putzen»"etait bien le mot d'ordre de cepays, si different du mien oü l'equivalent franqais le plus par-
lant: «astiquer», n 'etait guere en honneur. (Ebd., S. 53 f.); astiquer = blank putzen, glänzend reiben,
polieren, wienern.
231 Cabanis, Lettres, S. 54.
232 Ebd., S. 48.
221 Ebd., S. 122.
2,4 Cabanis, Les profondes annees, S. 283.
235 Ebd., S. 282.
2.6 Ebd., S. 171 f.
2.7 Ebd., S. 267.
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