Universitätsbibliothek Freiburg i. Br., ZG 4885
Die Pforte
24. und 25. Jahrgang.2004/2005
Seite: 91
(PDF, 30 MB)
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Aber in Cabanis' Aufzeichnungen ist es nie das Individuum, das das Böse verkörpert und willentlich
in sich aufgenommen hat, sondern das System hat sich des Individuums bemächtigt, es
als Mittel zur Verbreitung und Anwendung von Macht, Gewalt, Hass und Verderben missbraucht
. Alle Menschen, die Cabanis begegnet sind und die er nicht nur nach einer Kategorie
benennt, wie Soldaten, Direktoren, Arbeiter, sondern die er individuell durch Charakter, Handlung
oder Aussehen zeichnet wie zum Beispiel Anna, Paula, den schielenden Lagerführer,
Anneliese, sind alle auf irgend eine Weise gute Menschen, zu denen er Vertrauen haben kann,
die er liebt, mit denen er sich versteht.

Gewiss hätte Cabanis auch unangenehme Charaktere in seine Tagebucheintragungen
aufnehmen können, aber er hat es vermieden. Nicht um ein einseitig geschöntes und damit
falsches Bild der Gesellschaft zu zeichnen. Ein Autor wie Cabanis, dem Widerspruch und
Gegensatz Teil seines Wesens sind, wird auf die Zeichnung des bösen Widerparts nur dann
verzichten, wenn er ein anderes Gegensatzpaar im Auge hat. In seinen Tagebüchern sind es
nicht gute und schlechte Menschen, die sich entgegenstehen, sondern es ist die menschenverachtende
Maschinerie des Krieges, des politischen Systems und das menschenachtende Individuum
, die sich Paroli bieten. Der Fremdarbeiter, von der Kriegspropaganda entwürdigt zum
auszubeutenden, verachteten Objekt, zur Nummer ohne Wert, trifft auf den fühlenden, achtenden
, liebenden Mitmenschen, der sich nicht um die Propaganda schert und seine menschliche
Seele reden lässt. Der Mensch trifft auf den Menschen trotz einer inhumanen Übermacht und
besiegt diese durch die individuelle Begegnung ohne Vorurteil, Cliches und aufgesetzte Normen
.

Der junge Jose und die anderen, als Einzelpersonen gezeichneten Protagonisten werden so zu
Symbolfiguren im Widerstreit zwischen Krieg und Menschlichkeit. Zunächst will Jose den
Krieg besiegen, ihn mit seinen eigenen Waffen bekämpfen, indem er ihn dadurch vermeidet,
dass er sich in der Bleimine als Arbeitssklave verdingt. Aber sein Versuch scheitert: Er wird
entdeckt und als Zwangsarbeiter im Land des Gegners in eine noch viel schlimmere Situation
gebracht. Hier erweist sich um so mehr die unvoreingenommene, offene, freundliche menschliche
Begegnung als das Zaubermittel, das hilft, Feindseligkeit und Kampf zu überwinden.

Als absurder, ironischer Gipfel dieses Sieges über Gewalt und Unmenschlichkeit entpuppt sich
nun die Szene, in welcher Cabanis beschreibt, wie beim Luftangriff feindlicher Jäger die jungen
Leute sich Hals über Kopf und bunt gemischt in die Splittergräben stürzen und sich
miteinander vergnügen, solange die Flugzeuge über sie hinwegheulen. Eine besonders pikante
Note erhält diese Groteske durch die Möglichkeit, dass es vielleicht ein Landsmann, zumindest
einer von der selben Seite ist, der das todbringende Flugzeug steuert und dabei Jose die Gelegenheit
zum Vergnügen beschert. Die Szene verspottet nicht nur den Widersinn des Krieges, in
dem der Angreifer seinem Mitstreiter nach dem Leben trachtet, sie versinnbildlicht auch in
grotesk übertriebener Weise, wie „zwischenmenschliche Begegnung" hilft, die Angst vor der
Gefahr und somit auch den Krieg zu besiegen.

Findet man diese etwas gewagte Interpretation überspitzt und lässt deshalb solche komisch
überzeichneten Bilder einmal außer Acht, so ist dennoch offensichtlich, dass Cabanis überzeugend
und glaubhaft zeigt, dass und wie durch natürliche Freundlichkeit und gegenseitige
Achtung Feindbilder überwunden und menschliche Beziehungen bis hin zu Freundschaft und
Liebe aufgebaut werden können. In Les profondes annees leben Freund und Feind friedlich
zusammen. Die Diskrepanz zwischen politischer Indoktrination und menschlicher Reaktion
ermutigt zur Hoffnung, dass es immer noch möglich ist, den Feind zum Freund zu haben.

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