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getrennten Wegen und trafen sich draußen auf dem Land wieder. Fast jeden Abend blieben sie
bis in die Nacht hinein zusammen. [...] Am liebsten waren ihnen die dunklen Nächte, wenn man
nicht zwei Schrittweit sehen konnte oder wenn sie kaum die Umrisse ihrer Gesichter wahrnahmen
, so nah sie auch beieinander waren. [...] In hellen Nächten mußten sie sich auf den
kleinen Wegen um Freiburg wie Diebe verstecken.
Wenn Octave an der vereinbarten Stelle eintraf, so blickte er sich erst einmal um und dachte,
daß dieser Abend vielleicht der letzte sein würde: Er war es nicht gewohnt, glücklich zu sein.
Er setzte sich auf die Brüstung der schmalen Brücke, auf der sie sich treffen wollten, oder unter
einen Baum an eine Böschung und sagte sich: Sie kommt sicher nicht. Nicht weit von ihm die
düsteren Formen der Bäume, die im Winde erschauerten, ein wenig weiter ein oder zwei
Häuser mit einem Licht, und hinten, zum Elsaß hin, ein blasser Rest des Tageslichts. Das war
es also, was Deutschland für ihn bereitgehalten hatte: seine erste Liebe und diesen Körper,
dessen er niemals müde wurde.
In jenem Sommer umarmten sie sich in den Wäldern, in Wiesen, in Büschen, unter einem Pflaumenbaum
, ein wenig abseits von der Straße nach Breisach, wo sie die vorbeifahrenden Wagen
und das Wiehern der Pferde hörten und manchmal, wenn es sehr dunkel war, auch mitten auf
einem grasbewachsenen Weg. Kehrten sie dann in die Stadt zurück, so machten sie bei den
ersten Häusern halt, um im Schutz eines Hauseinganges noch einmal zu beginnen. Manchmal
öffnete sich plötzlich die Tür hinter ihnen. Schreie, Flucht im Dunkeln, Lachen. Am nächsten
Abend wartete Octave wie immer, voller Angst: Sie kommt sicher nicht. [...] Von weitem schon
hörte Octave auf dem Weg, der zur Stadt führte, den gleichmäßigen, unbekümmerten Schritt
Ilses. Der Friede war wieder hergestellt, dieser Abend würde nicht der letzte sein, und alles,
was sein Herz auf dieser Welt begehrte, würde ihm geschenkt werden. [...]
Ilse Kies war ziemlich groß; ihr regelmäßiges Profil, die aufrechte Haltung ihres Kopfes und
auch ihr Gang hatten etwas Majestätisches und Eindrucksvolles. Ihr Gesicht erinnerte ein
wenig an die behelmte Germania der Briefmarken, die Octave jede Woche auf seinen Brief für
die rue Caumartin klebte. Es hatte jenen strengen Ausdruck, der sich plötzlich in ein Lachen
verwandeln konnte. Aber vor allem hatte es ihm der kokette Blick ihrer blauen Augen angetan.
Dabei sagte sie Octave nicht ein einziges Mal, daß sie ihn liebte. Wenn er sich dazu hinreißen
ließ, sie zu fragen, küßte sie ihn. [...] Liebe, so viel er wollte, aber keine Gefühle. Octave hätte
ihr manches sagen wollen, aber er wagte es nicht. Die einzige Zärtlichkeit, die über ihre Lippen
kam, sagte sie ihm im darauffolgenden Herbst; Octave wußte, daß es sein letzter in
Deutschland war. Mitte November gab es noch einige schöne Tage. Es hatte viel geregnet, und
der Sturm hatte den Bäumen schon viele Blätter abgerissen. Und dann war der Himmel plötzlich
wolkenlos und von einer Bläue, wie man sie schon nicht mehr für möglich gehalten hatte.
[...] Auf den Wegen, die Octave einschlug, ging Ilse schweigsam neben ihm her und hielt ihn
bei der Hand. Überall schimmerten Pfützen, in denen sich die Sonne so hell spiegelte, daß sie
versilbert schienen und das Auge blendeten. [...] Weiter weg wogte der rostfarbene Wald bis
ins Unendliche, und überall am Horizont stiegen hohe Rauchsäulen auf. Da, wo sie sich an
diesem Herbstnachmittag niederließen, war die Erde nicht feucht. Ein großer Friede lag über
dem Land. Sicher käme er nie wieder hierher zurück, und am Ende des Winters wäre Octave
weit. Gegen Abend erhoben sie sich. Ilse sagte: „ Wir waren glücklich hier."
Schon hatte sie sich umgewandt und ging mit ihrem unbekümmerten Schritt, den er so liebte,
zur Stadt zurück.2™
Cabanis, Schlage doch, S. 135 ff.
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