Universitätsbibliothek Freiburg i. Br., ZG 4885
Die Pforte
24. und 25. Jahrgang.2004/2005
Seite: 123
(PDF, 30 MB)
Bibliographische Information
Startseite des Bandes
Zugehörige Bände
Regionalia

  (z. B.: IV, 145, xii)



Lizenz: Creative Commons - Namensnennung - Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0
Zur ersten Seite Eine Seite zurück Eine Seite vor Zur letzten Seite   Seitenansicht vergrößern   Gegen den Uhrzeigersinn drehen Im Uhrzeigersinn drehen   Aktuelle Seite drucken   Schrift verkleinern Schrift vergrößern   Linke Spalte schmaler; 4× -> ausblenden   Linke Spalte breiter/einblenden   Anzeige im DFG-Viewer
http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/pforte-2005-24-25/0125
34 Ukrainerin

Deutsche Einheiten, die (Ende 1942) aus Russland abgezogen wurden, verschleppten auch
junge Leute, welche dann in Deutschland zumeist in der Kriegsindustrie eingesetzt wurden. In
Kenzingen arbeiteten damals zwölf junge Ukrainerinnen bei Kaiser-Apparate-Bau, die im
Gasthaus „Salmen" oben im Saal untergebracht und verpflegt wurden. Eines dieser Mädchen
war Anna Halka, Cabanis' Freundin. Mit ihnen arbeitete auch Nina Popowa, Annas Freundin,
die daher ebenfalls als Ukrainerin galt, obwohl sie aus dem Kaukasus stammte (vgl. „Hans im
Glück").

35 Veronique & M.

Veronique war Joses erste Liebe in Frankreich. Die Erfahrung mit ihr hat Cabanis nachhaltig
geprägt. Er war siebzehn und hatte sie in der Kirche gesehen. Es dauerte Monate, bis aus
schüchternen Blicken eine erste Begegnung mit einem kurzen Gespräch wurde. Er verwandt
all sein Geschick darauf, sie möglichst oft zu erblicken, von weitem, auf der Straße oder in der
Kirche, und er ließ keine der seltenen Gelegenheiten aus, mit ihr zu sprechen. Wenn es ihm
gelang, bei einer Begegnung ihre Hand etwas länger als eigentlich notwendig zu halten,
jubilierte er in seinem Innern, und als sie ihn nach langer Zeit duzte, war er außer sich vor
Glück. Und doch steht in seinem Tagebuch: Ich wäre glücklich gewesen, wenn ich nicht diese
Liebe im Herzen getragen hätte.301 Denn mit der ersten Liebe kam auch das Leid: Die endlosen
Zeiten zwischen den Augenblicken des Wiedersehens, das sehnsüchtige Warten auf Post, die
oft nicht eintraf, was dann zu Vorwürfen und kleineren Unstimmigkeiten führen konnte, und
die so genährten Zweifel an ihrer Liebe zu ihm machten, dass er folglich melancholisch und
von Kummer gequält wurde.101 Und als ihr Abschiedsbrief eintraf, brach die schöne Scheinwelt
glücklicher Erfüllung in der Liebe für Jose für immer zusammen. Seither mißtraute ich stets,
trotz aller Beweise, denjenigen, von denen ich annehmen konnte, daß sie mich liebten; ich war
immer unsicher. [...] Ich konnte mich nie mehr von dem Hintergedanken befreien, daß man sich
eines Tages von mir abwenden könnte. Das hat mich mehr als einmal ungerechter und einsamer
gemacht, als es hätte sein müssen. Eine weitere, weniger ernste Folge war mein Schluß,
daß, wenn die Dinge so sind, ich zu Unrecht Hemmungen hatte, und daß es galt, sich mit den
Frauen zu amüsieren, was ich auch tat, nicht mein ganzes Leben lang, aber lange.m Schon als
er noch in Veronique verliebt war, hatte er eine weitere Beziehung zu einer älteren, erfahrenen
Frau, die er nur mit dem Anfangsbuchstaben „M." bezeichnete und die er - nach eigenem
Bekennen - eigentlich gar nicht liebte, von der er sich trennen wollte, wovon er aber immer
wieder Abstand nahm, um ihr nicht weh zu tun.

Bald pflegte er mehrere Mädchenbekanntschaften zur gleichen Zeit. So begann meine Karriere
als Schmalspurcasanova.™ Aber wirklich und ernsthaft und dauerhaft - noch ganz platonisch
- verliebt blieb er lange Zeit nur in Veronique: Ich habe Veronique kein einziges Mal geküßt.
Wahrscheinlich kam es vor, daß ich ihre Hand ein wenig länger hielt, aber gewiß nicht mehr
als eine Minute. Dennoch hat sie mehrere Jahre meines Lebens eingenommen, und sie hat mich
sehr glücklich und sehr unglücklich gemacht.10*

Diese Zeit jugendlicher Turbulenzen beschreibt Cabanis als den Übergang aus der Kindheit ins
Erwachsensein. Ich entfernte mich aus der Zeit des Glücks, [...] und machte meine ersten

301 Cabanis, Les profondes annees, S. 10 f.

302 Ebd., S. 13.

303 Ebd., S. 125.

304 Ebd., S. 133. „Schmalspurcasanova": Im Original: «Ainsi commenca ma carriere de Lovelace au petit
pied» = „So begann meine Karriere als kleiner Lovelace". Lovelace ist eine Person aus 'Ciarisse Har-
lowe', einem Roman von Richardson. Dort ist Lovelace ein perverser und zynischer Verführer.

105 Ebd., S. 18.

123


Zur ersten Seite Eine Seite zurück Eine Seite vor Zur letzten Seite   Seitenansicht vergrößern   Gegen den Uhrzeigersinn drehen Im Uhrzeigersinn drehen   Aktuelle Seite drucken   Schrift verkleinern Schrift vergrößern   Linke Spalte schmaler; 4× -> ausblenden   Linke Spalte breiter/einblenden   Anzeige im DFG-Viewer
http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/pforte-2005-24-25/0125