Universitätsbibliothek Freiburg i. Br., ZG 4885
Die Pforte
39. Jahrgang.2019
Seite: 29
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Großmutter. Ich erwache am Morgen vom Klang der Grillen, und die Sonne
scheint durch die Ritzen der Fensterläden. Seit damals mag ich es gerne beim
Erwachen am Morgen das Licht durch die geschlossenen Läden dringen zu sehen.
Das erinnert mich an eine glückliche Zeit meiner Kindheit. Unser Weggang nach
Straßburg ist für mich sehr schmerzhaft. Ich verlasse Freunde, die Schule und
meine Bezugspunkte.

Meine Mutter und meine Großmutter sprechen nicht mit mir über den Krieg. Übrigens
erzählt man allgemein zu jener Zeit den Kindern eher nichts. Damit ich
nichts verstehe, sprechen sie Deutsch. Ich muss aber erfasst haben, was sie sagen,
denn jede Nacht habe ich Albträume und immer dieselben, bis zum Alter von
zehn Jahren. Ich sehe Deutsche, die vom Dach aus diejenigen, die sich im Inneren
des Hauses befinden, erschießen. Später, nachdem ich Kriegsfilme gesehen habe,
ändern sich die Träume. Jetzt sehe ich Aufmärsche der deutschen Armee in den
Straßen und ich fliehe über die Dächer, ohne zu wissen wohin.

Ich musste 60 Jahre alt werden, um zu erfahren, was mit meinem Vater geschehen
ist.

Was meine Familie mütterlicherseits anbetrifft, so erfahre ich im Frühjahr 2008
in Arizona in den Vereinigten Staaten, was mit den Angehörigen der Familien
Fröhlich / Löwenstein geschehen ist. Eine Cousine zweiten Grades meiner Mutter
ist eine der wenigen Überlebenden der Familie. Sie ist mit Hans Spear verheiratet.

Hans Spear ist ein sog. Ritchie Boy. Die Ritchie Boys sind Europäer, die sehr jung
nach Amerika gekommen sind. Die meisten von ihnen haben Nazi-Deutschland
verlassen und wurden durch die amerikanische Armee im Camp Ritchie in Maryland
angeworben. Ihre Aufgabe ist es, nach Europa zurückzukehren, um die
Kriegsgefangenen zu befragen. Die amerikanische Armee erkennt, dass sie die
besten Befrager sind, denn sie kennen die Sprache, die Kultur, die Mentalität des
Landes. Sie erfinden Tricks, um Kriminelle, die sie befragen, zum Gestehen zu
bringen.

Am Ende des Krieges marschiert Hans Spear mit der amerikanischen Armee über

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die Champs-Elysees. Er erinnert sich mit großer Rührung daran. Erst 2008 überreicht
der US Senator John McCaine ihm die Verdienstmedaille der Vereinigten
Staaten. Der Antisemitismus, der nach dem Krieg in der amerikanischen Armee
herrscht, hat es verhindert sie früher zu erhalten. Christian Bauer, der das Buch
„Die Ritchie Boys" geschrieben hat, hat sie einen nach dem anderen in den Vereinigten
Staaten aufgesucht. Er hat darüber einen Dokumentarfilm gedreht.

Im Jahr 2007 finde ich in Butzbach das Haus meines Großvaters mütterlicherseits,
Karl Fröhlich. Heute ist es eine Familienpension. Die Historiker und Archivare
von Butzbach haben zwei Bücher über die Geschichte der Juden dieser Stadt geschrieben
. Natürlich kaufe ich sie! Es ist ein Anfang, um die Geschichte meiner
Familie mütterlicherseits zu rekonstruieren.

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