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Die vielen Geschichten, die wir in dieser Zeit gehört und erlebt haben, werden
vielleicht einmal ein Buch füllen. Die folgende begrenzte Auswahl soll dem Leser
einen ersten Eindruck aus dieser Zeit geben.
Die Ankunft
Der große Bus steht vor dem Haus. Es regnet. Müde und erschöpft steigen sie aus
mit ihren wenigen Habseligkeiten in Koffern, Taschen und Plastiktüten, soviel wie
eben jeder links und rechts tragen kann. Der Hausmeister des Landkreises steigt
auch aus dem Bus und treibt die Ankömmlinge zur Eile an. Schnell, schnell ins
Haus! ruft der Kapo. Andere Flüchtlinge müssen im Bus warten. Für sie geht es nach
diesem Stopp weiter in Unterkünfte an anderen Orten. Im Regen die Außentreppe
hinauf, durch die Eingangstür, innen entweder in den Flur oder auf einer schmalen
Treppe nach oben: die Betreuer erleben ein wildes Gemenge von schreienden
Kindern, Koffern, Taschen, drängenden Menschen. Plastikwasserflaschen knallen
zu Boden, platzen teilweise auf, bleiben im Eingangsflur liegen, bis einer der
Betreuer sie aufhebt und entsorgt. Ein paar Kinder schauen uns neugierig mit ihren
großen, dunklen Augen an. Die Familien werden auf die Zimmer verteilt, und jede
erhält vom Hausmeister einen Satz Töpfe. Kurz erklärt er den Seniorenschalter
in der Küche: Der schaltet den Elektroherd alle zehn Minuten automatisch aus;
deshalb muss er während des Kochens immer wieder gedrückt werden. Wegen der
Brandgefahr! Dann ist der Eilige weg und wir Helfer sind allein mit den Neuen.
Die Szene beruhigt sich.
Salam alaikum
Wenn wir eine arabische Familie zum ersten Mal mit einem Dolmetscher
besuchen, ist die Situation an der Tür oft ein bisschen heikel. Gedanken wie: Wer
sind die? Was wollen die? Kommen die vom Geheimdienst? mögen aufkommen.
Da begrüßen auch wir Deutschen sie mit Salam alaikum, das lockert die Stimmung
gleich erheblich auf. Manchmal gibt es in den engen Wohnungen Streit, und wir
werden von einer der Parteien als Schlichter gerufen. Bei solchen Gelegenheiten
weise ich gezielt auf die wörtliche Bedeutung des Grußes hin: Friede sei mit Dir!
Den Gruß kennen wir doch? Und auf Hebräisch heißt er Shalom.
Wir brauchen einen Arzt!
Eine jüngere Frau mit ihren drei Kindern und einem Mann ist am späten Nachmittag
aus der Landeserstaufnahmestelle (LEA) Heidelberg verlegt worden. Dem Mann
geht es offenkundig schlecht. Er hat schon seit Tagen starke Schmerzen. Er zeigt
uns englische Untersuchungsberichte aus seinem Herkunftsland, und er hat sogar
eine Einweisung von der LEA in die dortige Universitätsklinik für 10 Uhr des
heutigen Tages, mit dem dicken Vermerk: Nicht mehr verlegen! Soviel wir aus
den Berichten erkennen können, muss es lebensbedrohlich sein.
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