Universitätsbibliothek Freiburg i. Br., ZG 4885
Die Pforte
42., 43. und 44. Jahrgang, Jubiläumsband „775 Jahre Stadt Kenzingen“.2022-2024
Seite: 284
(PDF, 79 MB)
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Die Deutschkurse

Mangelnde Deutschkenntnisse sind der Kern vieler Probleme, die die Flüchtlinge
haben. Deshalb versuchen wir von Anfang an, ehrenamtlich Deutschkurse
anzubieten. Die Stadt stellt Räume und spezielle Lehrbücher. Wir finden
glücklicherweise eine ganze Reihe von erfahrenen Lehrerinnen, die viel Zeit
und Energie investieren. Sie merken, dass Deutsch als Fremdsprache sich
von normalem Deutschunterricht deutlich unterscheidet. Viele der Nah-Ost-
Flüchtlinge kennen unser Alphabet nicht, manche können selbst die arabische
Schrift nicht lesen, und semitische Grammatiken unterscheiden sich anscheinend
stark von indogermanischen. Kinderbetreuung, regelmäßige Teilnahme,
pünktlicher Unterrichtsbeginn und schriftliche Hausarbeiten sind Dauerprobleme,
und schließlich erzwingt der Ramadan eine Pause. Erst danach fragen die Frauen
selbst nach neuen Kursen, und es bildet sich ein loserer Gesprächskreis, der sich
über die Jahre hinweg bis zur Corona-Pandemie regelmäßig trifft.

Das Materiallager

Die Flüchtlinge haben bei der Ankunft nur das besessen, was sie anhatten und
was sie auf der Reise über mehrere tausend Kilometer tragen konnten. Von dem
Geld, das sie hier bekommen, müssen sie Lebensmittel und andere Artikel des
täglichen Bedarfs kaufen, auch Monats- und SIM-Karten, da bleibt wenig für
größere Anschaffungen übrig. Begehrt sind Fahrräder, Fernseher, Küchengeräte,
Teppiche, kleine Möbelstücke. Wir rufen die Bevölkerung auf, solche Gegenstände
für die Flüchtlinge zu spenden, und die Stadt stellt freundlicherweise das alte
Feuerwehrhaus, das später abgerissen wird, temporär als Lager zur Verfugung.
Für die Anlieferung müssen wir bald Grenzen setzen, sonst quillt die Halle über.
Jeden Mittwoch entwickelt sich nun zwischen 18 und 19 Uhr ein basarähnliches
Event, das großen Zuspruch findet. Die Frauen interessieren sich besonders für
Tücher, Stiefel und modische Taschen; alles wird durchwühlt und in Plastiktüten
gepackt. Halt, andere wollen auch etwas bekommen, und ganz umsonst geben
wir die Sachen nicht ab. Die Männer und Jugendlichen brauchen alle Fahrräder,
und es wird palavert und gefeilscht. Die Fahrradkünste der Frauen sind sichtbar
gering bis gar nicht ausgebildet. Nach einigen Monaten häufen sich immer mehr
Gegenstände an, für die sich kein Abnehmer findet, der Abriss der Halle steht kurz
bevor, und mit einem großen Abschlussevent hieven wir gemeinsam den ganzen
Rest in einen riesigen, von der Stadt bereitgestellten Müllcontainer - wir haben
die Befüllung der Deponie ja nur etwas verzögert und verringert.

Muschelstücke?

Ich treffe einen jungen Syrer vor dem Sprechzimmer des Sozialarbeiters. Ich
sehe ihn selten und unterhalte mich ein bisschen mit ihm. Er spricht passables
Englisch. Wie geht es? Nicht gut. Warum? Sein Vater ist gestorben. Das tut mir
sehr leid. War er krank? Nein. Woran ist er dann gestorben? Shell fragments.
Shell? Die Muschel? Muschelstücke? Tut mir leid, ich verstehe nicht, was soll

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