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Hochverehrte Anwesende!
Ein jeder Mensch ist seines Schicksals Herr, das ist ein
inhaltvolles, ein stolzes "Wort, das zu allen Zeiten von Menschen,
die über sich selbst und über menschliche Dinge dachten, in
mehr als einem Sinne ausgesprochen wurde; ein Wort, das
auch noch heute in allen Bildungsstufen verstanden und unverstanden
von Mund zu Munde geht. Die Kette der glücklichen
und unglücklichen Ereignisse, an der wir den Weg
von der Wiege zum Grabe finden, entrollt nicht einer unsichtbaren
Hand über den Wolken, nein, ihr selbst fügt zu dieser
Kette Eing an Eing. — Und doch erhebt sich gegen diese
Stimme, die die Weisheit auf der Gasse hören lässt, eine
Stimme in unserem Innern, die freudig bekennt: es ist die Güte
des Herrn, dass wir nicht gar aus sind. Wie stellen wir uns
nun zu der Frage, die uns vorliegt; ich beantworte sie in
ihrer 'Allgemeinheit mit einem entschiedenen Nein!
Ort und Zeit, worin wir leben, Anlagen und Kräfte, die
wir erhielten und endlich zufällige Ereignisse, die uns treffen,
üben einen mächtigen Einfluss auf uns aus. Ort und Zeit,
sind sie nicht so zu sagen der Zauberkreis, der uns mit über-
irdischer Macht in sich bannt. Ob wir ein Jahrtausend, was
sage ich, ein Jahrhundert, ein Menschenalter früher oder
später geboren sind, welchen unendlichen Einfluss übt es auf
unser Schicksal? Und wiederum, welchen Unterschied macht
es, ob wir unter einem Himmelsstriche, wo das Leben ver-
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