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38 Psychische Sti'dien. T. Jahrg. 1. Heft (Januar 1874.)
Funktionen vom anfänglichen Unbewusstsein zum dämmernden
Bewusstsein bis zum hellen (höheren) durchlaufen. Aber
auch das erreichte höhere Bewusstsein als Tagleben der
Seele ist nur ein kleines Bruchstück aus ihrem ganzen
Leben. Das zweite grössere Stück unseres Seelenlebens
bleibt uns unbewusst, sein Vorhandensein ist aber aus
sicheren Rückschlüssen zu erkennen. Diese Nachtseite des
Lebens kann zunächst durch den Schlaf charakterisirt
werden, während dessen die Seele in Träumen phantastische
Bilder zeugt. Aber auch während des hell bewussten Tagelebens
spielt das Unbewusste in uns die Hauptrolle. Alle
unsere Gedanken müssen aus dem Unbewussten, aus dem
Gedächtniss und der geistigen Schöpfungskraft aufsteigen.
„So sind alle unsere erinnerungsfähigen Gedanken immer
! unbewusst in uns vorhanden, auch wenn sie im Augenblick
für uns nicht zur Erinnerung werden. So sind die ver-
: gangenen Gefühle und erlebten Thaten und Leiden unser
Eigenthum auf unbewusste Weise. So unser Charakter,
i unser Glauben und Hoffen, und unsere ganze Gesinnung;
; denn Alles dieses ist nur selten für das bewusste Denken
! t gegenwärtig und ist doch in uns immer gegenwärtige Seele
! alles Handelns, aber auf unbewusste1 Weise. Und so muss
auch bei dem bewussten Denken, beim Witz, beim Dichten
und beim Oomponiren das Unbewusste zeugend funktioniren,
wenn wir nur das Geringste zu Stande bringen sollen."
Von den zwei Funktionen der Seele enthält die eine lauter
Bewusstes, Fertiges, Begrenztes, Messbares, Zählbares, die
andere eine unbewusste Thätigkeit, deren Grenzen nicht
bestimmt sind, und die einen unerschöpften, wenn nicht gar
einen unerschöpflichen Grund bewusster geistiger Gebilde
enthält. Das Unbewusste allein würde wie eine Pflanze
1 sem, die nicht zurBlüthe kommt. In den bewussten Ener-
! gien besteht das eigentliche Leben des Menschen und
daher auch sein Werth. Die Ursachen, welche der Seele
Gelegenheit zur Funktion geben, sind unser Leib und die
von ihm eindringenden Reize. Eine relative Abhängigkeit
der Seele von dem, was ihre Thätigkeit bedingt, ist von
I diesem Verhältniss unabtrennbar. Aber nicht die Existenz
\ der Seele, sondern nur ihre Funktion ist von dem Leibe
abhängig. Von dem Gedanken aus, dass unser Leib ein
Fluss fremder Dinge, die Seele der Hauswirth im Tausch-
' geschäft mit dem All sei, so dass die Seele dem Leibe
gegenüber eine eigne selbständige Substanz in allem Wechsel
des Leiblichen sei, sucht der Verfasser zu zeigen, dass die
Form des Leibes nicht zum Wesen der Seele gehöre, dass
die Form des Leibes nicht unverändert bleibe wie die Seele,
dass das Sei4enleben keine Aehnlicltkeit mit der Form dos
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